Drachensachen

Bisher hab ich die Cover meiner Bücher immer selbst entworfen, und dann von meinem Grafiker reinzeichnen lassen. Diesmal dachte ich, vielleicht lasse ich das Cover komplett fremddesignen.

Aber ich hab festgestellt, dass mir die grafische Beschäftigung mit meinem Buch fehlt. Aus irgendeinem Grund hilft mir „meine“ visuelle Umsetzung beim Schreiben … also hab ich mir ein Wallpaper für meinen Mac gebastelt, auch wenn das Cover dann vermutlich ganz anders aussehen wird. 😉

Wer mag, kann das Wallpaper gerne verwenden … ein Klick bringt euch zur großen Version.

wallpaper

 

what charlie kaufman has to offer

let me expose the wound
i do know that it is old
i do know it is a hole in my being
i do know it is tender
i do believe it is unknowable
or at least inarticulable
i do believe you have a wound, too.
i do believe it is both
specific to you and
common to everyone
i do believe it is the thing about you
that must be hidden and protected
it is the thing that is tapdanced over
five shows a day
it is the thing that won´t be interesting to other people
if revealed
it is the thing that makes you weak
and pathetic
it is the thing that truly, truly
makes loving you impossible

it is your secret even from yourself
but it is the thing that wants to live

it is the thing from witch your art, your painting, your dance, your composition, your philosophical treatise , your screenplay is born.

(c) charlie kaufman

Charlie Kaufmann ist für mich einer der besten lebenden Autoren. Dieser Vortrag von ihm deckt in unglaublichen 5 Minuten die Quelle des kreativen Schaffens, den Zustand der Welt und Kunst als letzten Ausweg ab. Wenn ich mir was wünschen kann: Hörs dir an.

 

 

 

Leseprobe FM2 / Küss mich zum letzten Mal

Wer am Ende der Leseprobe wissen will, wie es weitergeht, der findet das Buch hier auf Amazon.

Die Siebziger: Frauen verbrannten ihre BHs, die Hippies tanzten in den Straßen und liebten sich in den Parks, und die Gleichberechtigung aller Menschen schien zum Greifen nah. Die Welt war an der Schwelle zu einer besseren Zeit, alles schrie Veränderung und der Geschmack von einem besseren Morgen lag in der Luft.
Nichts davon erreichte Finley Meadows. Das Leben hier war, wie es immer gewesen war, und die Berichte in den Zeitungen waren so exotisch, als kämen sie aus fremden Ländern.
Meine beste Freundin Hetty war wie geschaffen für diese Zeit: Sie wollte etwas erleben, Karriere machen, auf eigenen Beinen stehen. Sie träumte davon, in fremde Länder zu reisen und verrückte Dinge zu tun. Sie wollte nach Venedig, nach Rom und Paris. Auf die Pyramiden klettern, den Orientexpress nehmen und danach eine Kreuzfahrt nach Australien machen.
Ich dagegen, gerade zwanzig geworden, arbeitete zwei Vormittage die Woche als Sprechstundenhilfe beim örtlichen Kinderarzt, lebte bei meinen Eltern, half auf der Farm und verbrachte so viel Zeit wie möglich mit dem Kopf in meinen Büchern.
Mein Traum war langweilig im Vergleich zu Hettys: Ich wollte Literatur studieren. Aber meine Mutter lächelte nur müde, wenn ich das Gespräch darauf brachte.
Sie war eine zarte Frau Mitte vierzig, durch die harte Arbeit auf der Farm frühzeitig gealtert. Hinter ihren tiefen Falten, der einfachen Kleidung und den schwieligen Händen konnte man noch die Schönheit erahnen, die mein Vater einst geheiratet hatte: Schlank, braunhaarig und mit blitzenden Augen war sie auf dem Hochzeitsfoto abgebildet. Die Jahre hatten nur eine brüchige, pergamenttrockene Version davon zurückgelassen.
Mein Vater wirkte neben ihr wie ein wütender Stier. Stämmig, glatzköpfig und rotwangig war er der unumschränkte Herrscher dieser kleinen Welt und seine Pläne für mich waren klar. Meine Mutter und ich hatten seinem Willen nichts entgegenzusetzen.
Ich war ihr einziges Kind geblieben, da meine Mutter nach der schwierigen Geburt keine Kinder mehr bekommen konnte. Unsere Farm war eine der größeren in der Umgebung. Es war kein Geheimnis, dass mein Vater mich unter die Haube bringen wollte. Und so gab es einige Männer, die als »Freunde der Familie« bei uns verkehrten. Ich hasste sie alle.
Mein Vater, der schon auf die Sechzig zuging, hielt mir Vorträge über die Zukunft. Ich denke, er meinte es gut. Auf seine raubeinige Art. Er wollte meine Mutter und mich versorgt wissen. Zwei Frauen, die eine Farm dieser Größe alleine bewirtschafteten? Völlig undenkbar. Dass wir vielleicht einmal gezwungen sein könnten, sie zu verkaufen, wenn er krank werden sollte, bereitete ihm schlaflose Nächte. Ein zupackender Schwiegersohn war in seinen Augen genau die Absicherung, die die Farm brauchte.


Als ich an dem warmen Frühsommerabend mit einer Schüssel grüner Bohnen aus der Küche kam, sah ich ihn: Mit zurückgegelten Haaren und einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, saß er gegenüber meines üblichen Platzes am Tisch. Er unterhielt sich mit meinem Vater über einen Bullen, den er ihm kürzlich abgekauft hatte.
Ich verdrehte innerlich die Augen und stellte die Schüssel ein wenig fester als notwendig auf den Tisch.
»Adele, das ist Herbert«, sagte mein Vater mit derselben Stimme, die er für störrische Kühe verwendete.
»Wir kennen uns«, murmelte ich und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Wie hätten wir uns auch nicht kennen können? Finley Meadows war ein Nest mit wenigen hundert Einwohnern. Jeder kannte jeden.
»Hallo, Adele«, sagte Herbert von der anderen Seite des Tisches und knetete die Serviette in seinen Händen.
»Hallo«, murmelte ich und beugte mich über den Tisch, um mir Eistee einzuschenken. Herbert schnellte hoch, griff nach dem Krug und stieß ihn mit einer ungelenken Bewegung um. Der Eistee ergoss sich über den Tisch und ich sprang auf.
»Es tut mir leid«, stammelte Herbert. Er tupfte mit der Serviette an seiner Hose herum, die nun von großen, feuchten Flecken verziert war. Sein Gesicht war flammend rot, als er nach einer hastig gemurmelten Entschuldigung im Badezimmer verschwand.
Ich seufzte.
»Ist das dein Ernst? Herbert?«, fragte ich meinen Vater mit gesenkter Stimme.
Seine Augenbrauen senkten sich bedrohlich. »Er ist ein netter junger Mann aus guter Familie. Du bist zu wählerisch, Adele. Du bist nicht mehr die Jüngste. Du brauchst einen Mann, um diese Farm zu führen, wenn ich alt und krank bin.«
»Er hört gerne Jodel-Musik.«
»Das ist doch Blödsinn. Was hat das damit zu tun, dass er dich nett findet und dich gerne kennenlernen würde?«
»Dad, bitte schick ihn weg«, sagte ich und tupfte die Überschwemmung am Esstisch mit einem Tuch auf.
»Du wirst ihm eine Chance geben, Adele! Ich will nichts mehr hören.«
In mir brodelte es, aber ich ließ mich wieder auf meinen Platz fallen. Ich konnte meinem Vater nicht offen widersprechen, aber ich würde auch nicht tun, was er von mir verlangte.
Herbert tauchte im Türrahmen auf. Als wüsste er mit seinen Armen nicht umzugehen, schlackerten sie um ihn herum, während er zum Tisch zurückkam.
Das Abendessen zog sich endlos in die Länge und ich überließ es meinem Vater, Konversation zu machen. Meine Mutter saß mit gesenkten Lidern neben ihm und beteiligte sich kaum. Was hältst du davon, fragte ich sie im Stillen. Hilf mir. Ich seufzte. Wie immer hatte ich keine Ahnung, was meine Mutter eigentlich dachte.
Als mein Vater endlich aufstand, um nach dem Essen eine Zigarette zu rauchen, sprang ich auf. Ich wollte gerade in mein Zimmer verschwinden, als Herberts Hand mich am Ärmel zupfte.
»Würdest du gerne mit mir einen Spaziergang machen?«, fragte er und nestelte an seinem Hemd herum. Seine Zähne waren zu groß für seinen Mund und ich musste an einen grinsenden Biber denken.
Ich wollte gerade Kopfweh vortäuschen, als mein Vater ihm auf die Schulter schlug. »Sicher will sie das, nicht wahr, Adele? Sie liebt Abendspaziergänge. Zeig ihm doch die neuen Tränken, die wir letzte Woche auf der hinteren Koppel eingebaut haben. Das interessiert Herbert sicher.«
Damit schob er uns beide in Richtung Haustür. Ich suchte krampfhaft nach einer Ausrede, die mein Vater akzeptieren würde. Ich wollte Herbert nicht verletzen, aber romantische Zeit mit ihm … Ich schauderte.
»Viel Spaß, ihr zwei«, sagte mein Vater, als wir auf die Veranda traten, grinste Herbert an und schlug die Tür hinter uns zu.
Herbert und ich standen für einige Momente schweigend voreinander, und das Zirpen der Grillen hallte in der verlegenen Stille zwischen uns.
»Ich würde die Tränken wirklich gerne sehen«, nuschelte er dann mit nervös zuckenden Augenlidern. Ich nickte und seufzte. Wir machten uns auf den Weg. Ich wollte das alles schnell hinter mich bringen und dann nur noch in mein Bett, aber Herbert schien anderer Meinung zu sein. Er schlenderte dahin, zeigte mir irgendwelche Sternbilder und streifte meine Hand mit seiner, so oft es ging. Als wir bei der Koppel angekommen waren, trat er einen Schritt näher. Er gähnte, streckte sich und legte den Arm um meine Schulter.
»Das ist eine besondere Nacht mit einer besonderen Frau«, sagte er und ich fragte mich, in welchem Film er das wohl aufgeschnappt hatte.
»Äh, sicher«, sagte ich, und duckte mich unter seinem Arm weg. »Das hier sind übrigens die Tränken.« Ich deutete auf die metallischen Behälter. Herberts schwitzende Hand griff nach meiner und ich unterdrückte den Impuls, sie ihm wieder zu entreißen. »Ich bin schon müde, Herbert«, sagte ich stattdessen. »Ich möchte heim.« Ich löste meine Finger vorsichtig aus seinen und drehte mich um.
Hoffentlich hat er die Botschaft verstanden. Während ich zügig auf das Haus zusteuerte, plapperte er etwas über die Schönheit der Farm und wie sehr ihn die Konstruktion der neuen Viehtränke beeindruckt hatte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, brummte ab und an und war froh, als wir endlich die Stufen der hölzernen Veranda erreichten. »Danke für den Spaziergang«, sagte ich, »und gute Nacht.«
Ich wollte mich gerade abwenden, als er plötzlich tief Luft holte, einen kleinen Satz nach vorne machte und seine feuchten Lippen auf meine drückte. Ich drehte den Kopf hastig zur Seite und wollte mich aus seiner Umarmung befreien, aber er war überraschend stark.
»Adele«, keuchte er in mein Ohr, »ich liebe dich. Ich verzehre mich nach dir.«
Ich schauderte und stemmte meine Fäuste gegen seine Brust. »Lass mich los, Herbert!«, zischte ich.
Aber seine Arme gaben keinen Millimeter nach, und seine Erektion drückte sich überdeutlich durch den Stoff seiner Hose gegen meinen Bauch. Panik und Übelkeit stiegen in mir auf. »Du sollst mich loslassen«, schrie ich und hämmerte auf seinen Brustkorb.
»Du bist noch so unerfahren, Adele, eine zarte Blüte«, keuchte er mit heißem Atem in mein Ohr. Seine Finger grabschten nach meiner Brust.
Ein Würgen stieg in meinem Hals auf, als sich plötzlich ein Schwall eiskalten Wassers über uns ergoss. Ich blinzelte und blickte nach oben. Meine Mutter sah auf uns herab und zog den Eimer zurück, den sie gerade über uns ausgeleert hatte.
»Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Herbert«, sagte sie ruhig. Ich starrte sie an, als wären ihr gerade zwei Hörner gewachsen.
Herbert schnappte nach Luft und wollte etwas erwidern, als Scheinwerfer die Hauswand streiften. Ein Auto kam die Zufahrt zu unserem Hof entlanggerollt.
»Das ist meine Mutter«, sagte er. »Sie hat mich am Weg zu ihrem Bridge-Abend hier abgesetzt und holt mich jetzt wieder ab.«
Dann stelzte er steif die Treppen hinunter und ging dem Auto entgegen, während Wasser aus seinen Hosenbeinen tropfte.


Am folgenden Nachmittag, als ich gerade einen Korb mit nasser Wäsche in den Garten geschleppt hatte, hielt ein Auto vor unserem Haus.
Ich blickte stirnrunzelnd auf und griff dann nach dem nächsten Stück. Hoffentlich nicht Herbert.
Ich schüttelte den Gedanken ab. Der Tag war warm und die leichte Brise würde die Wäsche in kurzer Zeit trocknen. Ich steckte gerade das gelb karierte Tischtuch mit einer Wäscheklammer fest, als ein Schatten auf den Stoff fiel.
»Hallo Adele.«
Ich blinzelte und sah Jake hinter mir stehen. Er war der Bruder meiner besten Freundin Hetty, und er war nett genug, uns manchmal mit seinem Auto zu den Tanzabenden zu bringen. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm in die dunkelbraunen Augen zu sehen. Wie üblich war er mit alten Jeans und T-Shirt bekleidet und seine dunklen Haare waren staubig von der Arbeit auf dem Feld.
»Hi.« Ich lächelte ihn an und zog eines der Leintücher aus dem Korb. Er schnappte sich ein Ende und half mir, es glattzustreichen.
»Was machst du hier?«, fragte ich ihn.
»Ich will mit deinem Vater darüber verhandeln, ob er mir die Nordweide verpachtet.«
Seit Hettys und Jakes Eltern vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben waren, führte Jake die Farm weiter und kümmerte sich um seine kleine Schwester. Da er eigentlich ständig mit Arbeit beschäftigt war, genossen Hetty und ich dort viel mehr Freiheiten als im Haus meiner Eltern.
»Und Hetty will wissen, ob du heute bei ihr übernachtest.«
Ich nickte. »Ich muss nur schnell meine Mum fragen.«
»Ich kann dich dann gleich mitnehmen.«
Er reichte mir das letzte Stück aus dem Wäschekorb, zwinkerte mir zu und ging zum Haus.
Ich hielt mein Gesicht für einen Moment in die Sonne und genoss die Strahlen auf meiner Haut. Dann schnappte ich meinen Korb und folgte Jake. Meine Mutter würde Ja sagen, da war ich sicher.
Nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, lief ich in mein Zimmer. Ich schlüpfte in frische Shorts und eine Bluse. Dann stopfte ich neben meinem Lieblingsnachthemd auch Make-up und ein geblümtes Sommerkleid in die Tasche, nur um sicherzugehen. Hetty war unberechenbar und vielleicht beschloss sie kurzerhand, dass sie heute Abend tanzen wollte.
Ich warf noch ein Buch hinein, dann polterte ich die Treppen hinunter und drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Sie strich mir übers Haar und reichte mir einen Korb mit frischgebackenem Brot und Apfelsaft aus der Vorratskammer. Ohne Geschenk für den Gastgeber irgendwo hinzugehen, war für meine Mutter völlig unvorstellbar, auch wenn ich in den Ferien nahezu jeden Tag bei Hetty war.
Ich wollte gerade nach draußen verschwinden, als mein Vater mich durch die angelehnte Türe seines Arbeitszimmers rief. Ich seufzte.
Das Arbeitszimmer meines Vaters war ein düsterer Raum. Eingerichtet mit wuchtigen Möbeln, schien alles hier über die Jahre seine Abneigung gegen Büroarbeit absorbiert zu haben. Die dichten Bäume und Sträucher vor dem Fenster schirmten das Sonnenlicht ab, und so musste mein Vater auch an hellen Sommertagen die Messinglampe auf seinem Schreibtisch einschalten.
Verstreut auf dem Tisch lagen Stapel an Rechnungen, Kontobüchern und Briefen. Es war meiner Mutter nicht erlaubt, hier Ordnung zu machen, und so überzog eine feine Staubschicht die Möbel. Die Luft roch nach altem Papier.
Wie üblich krabbelte Nervosität auf Spinnenbeinen über meinen Rücken. Ins Büro meines Vaters gerufen zu werden, bedeutete nichts Gutes.
Er saß mit einer Zigarette in der Hand hinter dem Tisch und deutete auf den schweren Ledersessel ihm gegenüber. Ich ließ mich darauf nieder, das Leder war unangenehm kühl unter der Haut meiner nackten Beine.
Ich legte meine Hände in den Schoß, während mein Vater mich musterte. Er schien etwas zu überlegen, aber sein Gesichtsausdruck war unleserlich.
»Jake wartet draußen«, sagte ich schließlich leise.
Er nahm einen Zug von seiner Zigarette. Der Rauch stieg in komplizierten Mustern auf und hing dann in einer metallisch blauen Wolke unter der Zimmerdecke.
»Es tut mir leid, dass ich versucht habe, dich zum Heiraten zu drängen«, sagte er plötzlich.
Mir blieb der Mund offen stehen.
»Ich werde mich nicht mehr einmischen.« Er nahm einen neuen Zug.
Irgendetwas an seinem Tonfall machte mich misstrauisch, aber ich konnte den Finger nicht darauf legen. »Danke, Dad«, sagte ich vorsichtig. Hat er ein schlechtes Gewissen wegen Herbert? Irgendwie bezweifelte ich es. Mein Vater tat selten etwas ohne Hintergedanken.
Er winkte mit seiner Hand in Richtung Tür und ich erhob mich. Ich war entlassen.
Als ich vor die Tür trat, lehnte Jake an der Motorhaube seines türkisen Ford Pick-up und grinste mich an. In wenigen Sätzen sprang er die Stufen der Veranda hinauf und nahm mir Tasche und Korb ab.
»Kuchen?«, fragte er und schnupperte hoffnungsvoll. Ich musste lachen.
»Du bist verfressen«, sagte ich. »Diesmal nicht. Sie schickt euch frischgebackenes Brot und Apfelsaft.«
Jake zog ein langes Gesicht. »Ich kann nichts dafür. Hettys Kochkünste reichen gerade für Ham and Eggs, und wenn deine Mutter uns nicht regelmäßig Kuchen schicken würde, müsste ich glatt verhungern.«
»Armer Jake«, sagte ich gedehnt und kletterte auf den Beifahrersitz. »Ich werde mal sehen, was ihr für Zutaten daheim habt. Wenn ich fündig werde, kann ich einen Kuchen für dich backen.«
»Ah, ein Mädchen nach meinem Geschmack.« Er startete den Wagen.


»Stoßen wir an auf … Träume, die in Erfüllung gehen.« Hetty hielt ihr Glas in die Höhe. Ihre dunklen Augen blitzten. Die lockigen, braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihr knapper Rock und das enge Oberteil mit dem psychedelischen Muster betonten ihre Kurven. Wie üblich zog sie die Aufmerksamkeit der Männer des Lokals auf sich. Mit meiner schlaksigen Figur und den glatten, braunen Haaren fühlte ich mich fast unsichtbar neben ihr.
Jake und ich prosteten ihr zu und nahmen einen Schluck von dem billigen Sekt. Die Bläschen kitzelten in meiner Nase und stiegen direkt in mein Gehirn.
»Was feiern wir?«, fragte ich Hetty, als ich mein Glas wieder auf die zerkratzte Tischplatte stellte. Ich musste mich ein wenig nach vorne lehnen, denn die Country-Musik dröhnte laut durchs Lokal. Die Band auf der Bühne schien wirklich Spaß zu haben.
»Wir feiern, dass ich eine Stelle beim Außenministerium ergattern konnte. Ich werde in Kürze als Sekretärin eines Botschafters arbeiten.«
»Das ist ja großartig, Hetty. Ich bin so stolz auf dich.« Ich sprang auf, warf die Arme um meine Freundin und drückte sie fest. »Wann hast du die Zusage erhalten?« Wir hatten die vergangenen Wochen gemeinsam gefiebert, auf die Antwort gewartet. Nun war es also so weit.
»Heute Morgen.« Hetty grinste von einem Ohr bis zum anderen. »Ich soll mich in zwei Wochen in New York melden, von da aus werde ich einen Diplomaten begleiten. Unsere erste Reise führt uns nach Paraguay. Kannst du dir das vorstellen? Ich werde reisen, wie ich es immer geplant habe!«
Ich nickte, plötzlich mit einem dicken Kloß im Hals. Hetty würde wirklich weggehen.
»Ich bin stolz auf dich, kleine Schwester«, sagte Jake. »Auch wenn ich jetzt  verhungern werde«, fügte er mit Grabesstimme hinzu.
»Ach, Adele wird sich um dich kümmern, stimmt’s?« Hetty boxte mich in die Seite.
Ich musste lachen. »Wird mir eine Ehre sein. Mum ist sicher außer sich vor Sorge, wenn sie hört, dass Jake ohne weibliche Hilfe zurückgelassen wird. Ich denke, dass ich öfter mal den Auftrag bekommen werde, einen Korb mit Essensrationen zu eurer Farm zu bringen.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Er lächelte, aber in den Tiefen seiner Augen saß Traurigkeit. Es musste hart für ihn sein, seine kleine Schwester ziehen zu lassen. Er hielt meinen Blick für einen kurzen Moment. Ein wortloses Verständnis summte zwischen uns beiden: Wir würden Hetty unterstützen, auch wenn es uns schwerfiel.
Plötzlich prickelten Tränen in meinen Augen. Ein selbstsüchtiger Teil von mir wollte sie überreden, hier zu bleiben.
Reiß dich zusammen! Das ist Hettys großer Traum, den wirst du ihr nicht verderben.
»Entschuldigt mich kurz, ich muss mal für kleine Mädchen.« Ich rutschte vom Barhocker, machte mich auf den Weg quer durchs Lokal und verließ dann die Bar durch den Hintereingang. Draußen parkten Autos, zwischen denen verliebte Paare eng umschlungen umherschlenderten. Ich machte ein paar Schritte, lehnte mich an einen der Wagen und legte den Kopf in den Nacken.
Hetty würde wirklich weggehen. Nach all den Jahren, die sie davon geträumt hatte. Jetzt war es so weit und ich fühlte mich unvorbereitet. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie mein Leben ohne ihre Wärme, ihre Lebendigkeit und ihren Witz aussehen würde. Ich vermisste sie bereits jetzt.
Über mir breitete sich der sternenübersäte Himmel aus. Plötzlich hatte ich das Gefühl, zu fallen. Als würden die Sterne meinen Namen rufen, mich in die samtige Dunkelheit über mir ziehen.
»Schlechter Abend?«, fragte eine tiefe Stimme neben mir.
Mir war nicht danach zu reden, also zuckte ich einfach mit den Schultern und hoffte, der Fremde würde wieder gehen.
»Die Sterne können einem nicht helfen, aber manchmal kann es die Musik«, sagte der Mann.
Ich schnaubte. »Sicher«, sagte ich und hielt die Augen stur nach oben gerichtet. Warum verschwand er nicht einfach?
Es raschelte neben mir. Plötzlich erklang leise eine traurige Melodie. Mein Blick flog zu ihm und ich sah, dass er auf einer Geige spielte. Ich konnte ihn nicht erkennen, denn er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen.
»Schleppst du immer eine Geige herum, wenn du versuchst, Mädchen aufzureißen?«, fragte ich. »Das ist auf alle Fälle originell.«
»Man tut, was man kann«, sagte er und ein Grinsen war in seiner Stimme zu hören, während er weiterspielte.
Ein kleiner, wohliger Schauer lief über meinen Rücken, und ich ließ den Kopf wieder in den Nacken fallen. Die Melodie hüllte mich ein, tröstend wie eine Umarmung. Es war, als hätte er den Kummer in meiner Seele gelesen und könnte ihn in Musik übersetzen. Als er geendet hatte, fühlte ich mich verstanden. Und enttäuscht, dass die Musik verstummt war.
»Danke«, flüsterte ich dem Unbekannten zu.
Statt mir zu antworten, zog er mich zu sich und küsste mich zärtlich. Ich war für einen Moment wie erstarrt, aber dann entwickelte mein Körper ein Eigenleben. Unendlicher Hunger breitete sich in mir aus. Ich drängte mich näher an ihn und erwiderte seinen Kuss, ließ meine Hände über seine Brust wandern, stöhnte auf unter der Zärtlichkeit seiner Finger. Dieser Mann war mir so vertraut, als würden wir uns seit Jahren kennen.
Als er den Kuss schließlich unterbrach, atmeten wir beide schwer. »Wow«, brummte er und fasste nach meiner Hand. Er zog mich hinter sich her zurück Richtung Bar und ich folgte ihm benommen. Bevor wir hineingingen, blieb er stehen. Und dort, unter dem flackernden Neonlicht der Reklametafel, sah ich ihn zum ersten Mal: Blonde Haare, die ein wenig zu lang waren, um hier in Finley Meadows als ordentlicher Haarschnitt zu gelten. Blitzblaue Augen, die mich nicht loslassen wollten. Ein markantes Kinn mit einem blonden Drei-Tage-Bart. Lippen, so voll und sinnlich, dass ich mich unwillkürlich näher lehnte. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand in den Bauch geboxt.
»Ich denke, du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, murmelte er und beugte sich wieder zu mir. Seine Lippen streiften fordernd die meinen und ich presste mich an ihn, ohne nachzudenken. Das hier war Irrsinn, aber es fühlte sich einfach so verdammt richtig an.
»Ich muss noch einmal auf die Bühne«, sagte er, bevor er zärtlich an meinem Ohrläppchen knabberte. »Wartest du auf mich?«
Ich nickte, weil ich scheinbar die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte. Oder zu denken. Ich folgte ihm in die Bar und sah zu, wie er auf die Bühne zu den anderen Musikern kletterte.
Dann ging ich langsam zu Hettys und Jakes Tisch zurück.
»War die Schlange vor dem WC so lang?«, fragte Hetty und blickte mich stirnrunzelnd an. »Gut, dass ich nicht mitgekommen bin.«
Ich nickte, unfähig, meinen Blick von der Bühne zu lösen. Ich wusste noch nicht einmal seinen Namen, aber seine blauen Augen brannten auf meiner Haut.
»Geht’s dir gut?«, fragte Jake. Ein Teil von mir registrierte die verwunderten Blicke, die sich die Geschwister zuwarfen, aber es war mir egal. Ich konnte nur an den Mann denken, der mich eben geküsst hatte. Der mich gebeten hatte, auf ihn zu warten.
Als ich da stand und dabei zusah, wie er auf der Bühne seiner Geige Melodien entlockte, wurde mir klar, dass ich schon immer auf ihn gewartet hatte. Und immer auf ihn warten würde.


Die Menge jubelte. Der Mann mit der Geige lächelte mich an. Sein Blick fing meinen und hielt ihn fest. Selbst von der Bühne aus konnte er mein Herz dazu bringen, schneller zu schlagen.
Noch eine letzte Verbeugung, dann verschwand er hinter dem Vorhang. Ich blickte mich im Raum um und reckte meinen Hals, um besser sehen zu können.
»Suchst du jemanden?«, fragte Hetty .
Ich bewegte vage den Kopf, was sowohl Ja als auch Nein hätte bedeuten können.
»Hallo«, sagte eine Stimme hinter mir und ich wirbelte herum. Meine Wangen wurden heiß, während meine Knie ganz plötzlich ihren Dienst versagten. Ich griff instinktiv nach dem Tisch, um mich festzuhalten.
»Und du bist?«, fragte Jake und zog die Augenbrauen hoch. Hetty machte nur große Augen.
»Rouven«, sagte mein Musiker, und der Klang seines Namens tanzte wie knisternde Schneeflocken auf meiner Haut. Er beugte sich zu mir. »Damit bist du im Vorteil. Ich weiß noch nicht einmal deinen Namen«, murmelte er in mein Ohr. Er legte seinen Arm um meine Taille. Als hätten wir es schon hunderte Male so gemacht, lehnte ich mich gegen ihn.
»Ihr habt gut gespielt«, sagte Jake stirnrunzelnd. Hetty strahlte Rouven und mich abwechselnd an.
»Nicht wirklich meine Art von Musik«, sagte Rouven und zuckte mit den Schultern. »Aber gutes Geld.«
»Bist du auf der Durchreise?« Jake nahm einen Schluck Bier, ohne die Augen von Rouven abzuwenden.
»Das war ich«, sagte Rouven und blickte mich dann an. »Aber ich denke, mir gefällt es hier.«
Mein Magen machte einen flatterigen kleinen Salto.
»Sehr sogar«, murmelte er und seine Lippen streiften über meinen Hals. Ich schloss meine Augen und ertrank für einen Moment in dem Gefühl seiner Nähe.
Hettys Kichern ließ mich aufblicken. »Wir werden dann gehen«, sagte sie. »Ich denke, du kommst nicht mit uns mit?«
Ich schüttelte langsam den Kopf.
»Ich bringe sie nach Hause«, sagte Rouven und streichelte über meinen Oberarm. »Oder bis ans Ende der Welt. Wohin sie will.«
»Dachte ich’s mir. Komm, Jake!«, sagte Hetty energisch und zog ihren Bruder am Arm.
Jake sah Rouven mit gerunzelten Augenbrauen an. Sein Blick wanderte zu mir und ich las die Frage darin. Ich nickte und spürte, wie sich ein dämliches Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich würde mit Rouven fahren.


Seine Hand lag noch immer auf meiner Taille, als er mich durch das Gedränge der Bar zum Hinterausgang begleitete. Er hielt mir die Tür auf und samtige Nachtluft schlug uns entgegen. Ich atmete tief ein.
Rouven griff nach meiner Hand und zog mich sanft weiter. Kies knirschte unter meinen Absätzen. Als er stehen blieb, starrte ich für einen Moment auf die blau-schwarze Triumph, die unter einer Straßenlaterne geparkt war. »Du erwartest, dass ich darauf mitfahre?«, fragte ich.
Er grinste und befestigte seinen Geigenkoffer an der Maschine.
»Du hast eine extra Halterung für deine Geige am Motorrad?«
Er lachte leise und kam auf mich zu. »So viele Fragen. Und ich weiß immer noch nicht deinen Namen«, sagte er und blieb ganz nah vor mir stehen. »Aber bevor du ihn mir verrätst …«
Er küsste mich. Seine Liebkosungen breiteten sich wie kleine Schockwellen in jeden Teil meines Körpers aus. In mir brach die letzte Mauer der Vernunft. Es war nicht logisch. Es war eigentlich unmöglich. Aber ich wusste ohne Zweifel, dass dieser Mann mein Schicksal war.


Der Fahrtwind trieb mir Tränen in die Augen und zerzauste mein Haar. Ich drückte mein Gesicht an seine abgewetzte Lederjacke und atmete den herben Geruch ein. Eng an seinen Rücken geschmiegt, raste ich mit ihm durch die Nacht und genoss seine Nähe. Genoss es, nicht reden zu müssen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander und ich war dankbar für diese Pause.
Schließlich wurde Rouven langsamer und brachte das Motorrad zum Stehen.
»Wo sind wir?«, fragte ich und mein Blick wanderte über das alte Herrenhaus vor uns. Erstaunt stieg ich vom Motorrad. Immerhin war ich in der Gegend aufgewachsen, aber dieses alte Haus war mir völlig unbekannt. Es lag alleine in der weiten Landschaft inmitten eines kleinen Wäldchens. Die alte Holzfassade mit den geschnitzten Details war verwittert, die schäbigen Fensterläden geschlossen. Scheinbar wohnte hier bereits seit Jahren niemand mehr.
»Ich möchte dir etwas zeigen.«
Er nahm seinen Geigenkasten, ging vor mir zu einem verrosteten Tor und zog den schmiedeeisernen Flügel vorsichtig auf. Dann bog er die Zweige der Sträucher dahinter zurück und ein Durchgang wurde sichtbar.
Vor uns im silbernen Mondlicht lag ein verwilderter Garten. Die Luft war erfüllt von süßem Duft. An den Rändern standen unzählige Fliederbüsche, deren Blüten in schweren Dolden herabhingen.
»Du hast mich an diesen Garten erinnert«, sagte Rouven. »Überwältigend. Verzaubert. Eigentlich zu schön, um wahr zu sein.«
Er schien keine Antwort zu erwarten, sondern schlang den Arm um mich und zog mich tiefer in den Garten.
»Wem gehört das alles hier?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab es vor einiger Zeit entdeckt, und da das Haus nicht bewohnt ist, war ich schon ein paar Mal hier zum Üben. In meiner Absteige sind die Wände so dünn, dass meine Nachbarn mich lynchen würden, wenn sie jeden Tag mehrere Stunden Mozart, Vivaldi und Fingerübungen hören müssten.«
Ich kuschelte mich in seine Armbeuge.
»Der Garten ist riesig. Eigentlich eher ein Park. Wer immer hier früher gelebt hat, muss ihn sehr geliebt haben. Überall findet man Dinge, die der Besitzer hinterlassen hat: verwitterte Steinstatuen, kleine Lauben, fast zugewachsene Waldwege.«
»Übst du hier jeden Tag?«
Er neigte den Kopf. »Magst du Klassik?«
»Ich weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich mache mir eigentlich nicht so viel aus Musik. Mir sind Bücher lieber.«
Er lachte leise – ein Geräusch, das über mich glitt wie eine Liebkosung. Dann hob er meine Hand zu seinen Lippen und küsste die Innenseite meiner Handfläche. Für eine Sekunde schlüpfte die Zunge aus seinem Mund und schickte eine Hitzewelle über meine Haut.
»Klassische Musik ist wie das Leben«, murmelte er in meine Hand. »Sie ist Liebe und Leidenschaft, Trauer und Leid. Sie ist einfach alles.«
»Dann sollte ich das nicht verpassen«, sagte ich. Ich erkannte meine eigene Stimme kaum, sie klang so rau und kehlig.
»Wann musst du zu Hause sein?«
»Meine Eltern denken, dass ich bei meiner Freundin schlafe. Also habe ich die ganze Nacht.«
Wir spazierten weiter. Keiner von uns wollte die Stille des verzauberten Gartens durch Worte stören. Der bemooste Weg machte ein paar sanfte Wendungen und führte dann zu einem kleinen See, der im Mondlicht glitzerte. Trauerweiden standen ringsum, ihre langen Zweige hingen ins Wasser, das sich unter dieser Berührung kräuselte.
Am Ufer stand eine alte Steinbank. Rouven breitete seine Jacke darauf aus und ich setzte mich. Er öffnete den Geigenkoffer. An der Art seiner Bewegungen sah ich, dass er das bereits tausende Male getan hatte. Er machte ein paar Schritte von mir weg auf den See zu. Mit dem Rücken zu mir setzte er das Instrument an und begann zu spielen.
Träge wie ein altes Liebespaar tanzten Rouvens Finger über die Saiten, während er behutsam den Bogen strich. Töne stiegen auf, wirbelten in der Luft herum und drangen durch meine Haut. Die Melodie breitete sich um uns herum aus und füllte jeden Winkel des Gartens. Ohne Rouvens Gesicht zu sehen, konnte ich ihn spüren − in diesem Stück lagen all seine Gedanken, und ich kannte sie. Sie spiegelten meine eigenen, als hätte er in meiner Seele gelesen.
Ich weiß nicht, wie lange er in jener Nacht für mich gespielt hat. Die Musik verwob sich mit der Umgebung, schuf eine Blase, in der nur wir zwei existierten. Als er schließlich endete, fröstelte ich. Ohne seine Musik fühlte ich mich einsam.
Ich stand auf und ging zu ihm hinüber. Er sah auf den kleinen See hinaus, und ich umarmte ihn.
»Danke«, sagte ich leise. Ich wusste, er hatte mir ein kostbares Geschenk gemacht.
Rouven drehte sich zu mir um. Seine Augen waren so tief wie der See.
»Hattest du Angst, es könnte mir nicht gefallen?«, fragte ich erstaunt.
»Ein wenig«, murmelte er. Und dann küsste er mich.


Als er mich an jenem Morgen zu Hettys Haus brachte, war ich wie in Trance. Die Eindrücke der Nacht vermischten sich mit meinen Gefühlen und Rouvens Nähe zu einem weichen Nebel, auf dem ich schwebte.
Er begleitete mich zur Haustür. Ich lehnte mich gegen seine Brust. Ich war nicht bereit, ihn schon gehen zu lassen, und er schien genauso zu fühlen.
»Hast du heute Nachmittag Zeit?«, fragte er und seine Finger wanderten in spielerischen Kreisen über meinen Rücken. »Länger halte ich es ohne dich nicht aus.«
Ich nickte und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.
Schließlich lösten wir uns widerwillig voneinander. Ich sah ihm zu, wie er auf sein Motorrad stieg, mich anlächelte und dann in einer Staubwolke aus dem Hof fuhr.
Die Sonne stand noch ganz tief am Horizont, als ich die Haustüre öffnete. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und betrat das Vorzimmer. Aus der Küche drangen leise Geräusche, es roch nach gebratenem Speck und Kaffee.
Ich seufzte erleichtert. Hetty war munter. Ich war zum Bersten angefüllt mit Glück, musste einfach mit ihr reden.
Ich lief zur Küchentür, stieß sie auf und erschreckte Hetty dermaßen, dass sie auf dem Absatz herumwirbelte.
»Puh«, sagte sie. »Na, du kommst aber spät.« Sie stemmte die Hände in die Hüften.
Ich fiel ihr um den Hals und lachte.
»Wie war es?«, fragte sie. »Ich will alles ganz genau hören.«
»Es war großartig«, sagte ich. »Ich bin so verliebt, Hetty.«
Sie drückte mich fest. »Oh, wie romantisch.« Als ein verbrannter Geruch in unsere Nasen stieg, fluchte Hetty. »Verdammt!« Sie schob die Pfanne mit dem verkohlten Speck von der Herdplatte.
Ich kicherte und griff nach einer Kaffeetasse, die neben dem Herd stand.
»Für mich?« Sie schüttelte den Kopf.
»Eigentlich mein Kaffee. Aber du kannst ihn haben.«
Als ich mich umdrehte, sah ich Jake ganz still am Küchentisch sitzen.
»Hi, Jake.«
Er antwortete nicht. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen, den ich nicht deuten konnte. Dann stand er auf und verließ wortlos den Raum. Die Küchentür schwang noch ein paar Mal sanft knarrend hin und her.
»Was ist los mit Jake?«, fragte ich Hetty.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke, es gefällt ihm nicht, dass du die ganze Nacht weg warst. Er kennt Rouven nicht und er denkt, er hat die Verantwortung für uns Mädchen. Du weißt ja, wie er ist. Immer vernünftig. Kein Sinn für Abenteuer. Blabla. Vergiss es einfach, er wird sich schon wieder beruhigen.« Sie ließ den verkohlten Speck in den Mülleimer gleiten. »Und jetzt«, sagte sie strahlend, »musst du mir alles ganz genau erzählen.«

Wie es mit Rouven & Adele weiter geht, könnt ihr in „Küss mich zum letzten Mal“ nachlesen.