Finley Meadows 4

Ihr wisst ja, dass ich eigentlich am Drachenbuch geschrieben hab. Doch dann war da plötzlich Cara in meinem Kopf, und ist mir mit ihrer Geschichten unglaublich auf die Nerven gegangen. So sehr, dass ich irgendwann aufgegeben hab – und ihre Geschichte geschrieben. Gestern hab ich das Manuskript zu meiner Lektorin Andrea geschickt. Und ab jetzt arbeite ich wieder in Ruhe an meinen Drachen. Ahhh. 😉

Ich dachte, ihr wollt vielleicht einen kleinen Vorgeschmack auf Finley Meadows #4? Der Titel ist zwar noch streng geheim… (bzw. behaupten böse Zungen auch, dass sich die Autorin vielleicht noch nicht endgültig entschieden hat. Hüstel.) … aber der Klappentext ist da!

Für alle Kopfurlauber unter euch: im Herbst gibts wieder freie Hotelzimmer in Finley Meadows. 😉

Cara hat die Nase voll von Männern. Für immer. Lieber konzentriert sie sich auf ihre beiden Kinder und auf ihre Arbeit als Archäologin – und hat damit alle Hände voll zu tun. Aber ein Ekelpaket von Chef, eine Nanny aus der Hölle, ein gewaltiger Sandsturm und ein kleiner Grippevirus bringen Caras straff organisierten Alltag ins Trudeln und lösen eine Kette von Katastrophen aus.

Zu allem Unglück mischt sich dann auch noch ihr Nachbar ein: Sam ist von Beruf Sohn, stinkreich, und er hat keine Ahnung davon, wie hart das Leben sein kann. So jemand hat Cara gerade noch gefehlt.

 

Leseprobe: Küss mich einfach immer weiter

Am 17.5. erscheint der dritte Teil meiner Finley Meadows Reihe auf Amazon … und ich dachte, ihr habt vielleicht Lust auf eine kleine Leseprobe?

***

Finley Meadows, 1972


Adele,

wenn du diesen Brief hier liest, dann werde ich nicht mehr bei dir sein. Der Gedanke, dich eines Tages zurückzulassen, scheint mir nahezu unmöglich, so als wäre ich gezwungen, einen Teil von mir selbst aufzugeben.

Es ist spät. Du schläfst schon, und ich kann es kaum erwarten, dich in meine Arme zu schließen. Doch zuvor muss ich dir schreiben, auch wenn es der schwerste Brief ist, den ich jemals schreiben werde.

Ich bete jeden Abend darum, dass wir noch viele gemeinsame Jahre haben, bevor dir unser Notar eines Tages diesen Brief überreichen wird.

Waren es gute Jahre, Adele? Hat Gott uns weitere Kinder geschenkt? Konnte ich dich glücklich machen? So glücklich, wie du mich seit unserer Hochzeit gemacht hast?

Denn das hast du, Adele. Mehr, als ich es jemals in Worte fassen kann. Ich hoffe, dass dein Schmerz über die Jahre nachlässt, dass du es nie bereuen wirst, dich für mich entschieden zu haben und gegen ihn. Dass meine Liebe stark genug für uns beide ist.

Jake junior ist das größte Geschenk, das du mir je machen konntest. Dass er meinen Namen trägt, erfüllt mich mit Stolz. Ich sehe ihn an und kann kaum glauben, dass er wirklich Teil unseres Lebens ist. Dass wir eine Familie sind. Du und ich, und Jake.

Ich werde ihm alles beibringen, was ich weiß. Ihm helfen, seinen Platz im Leben zu finden. Ihn beschützen. Ich will sein Vater sein in jeder Hinsicht, so gut ich es kann.

Wir beide wissen, dass es noch eine andere Wahrheit gibt. Eine Wahrheit, die ihn verletzen würde. Ich möchte ihn schützen. Vor der Engstirnigkeit der Menschen. Und davor, sich auf die Suche zu machen. Da draußen gibt es nichts, das er nicht schon lange besitzt: ein Zuhause. Eine Familie. Einen Vater.

Vielleicht wirst du eines Tages daran denken, ihm diese Wahrheit zu erzählen. Du hast ein ehrliches Herz, und ich weiß, dass die Lüge auf deinem Gewissen lasten wird.

Aber, Adele, was mich betrifft, ist es keine Lüge. Ich bitte dich, auch wenn ich nicht mehr bei dir bin, denk an das Versprechen, das du mir gegeben hast: Lass ihm seine Wurzeln. Ein Mann findet Stärke in dem Land, auf dem er lebt. Im Andenken an seinen Vater, dessen Namen er trägt. Jake jun. ist mein Sohn. Nichts anderes zählt.

Ich liebe dich. Ich warte auf dich, wo auch immer ich jetzt bin.

Jake

 

 

Kapitel 1.

Suchend tastete Rouven im Dunkel des Stiegenhauses nach dem Schlüssel. Aus dem Stockwerk unter ihm drangen Unterhaltungsfetzen und Gläserklirren an sein Ohr. Er sollte jetzt dort sein. Die Party genießen, den letzten Abend feiern.

Angestrengt kniff er seine Augen zusammen, aber er konnte nichts sehen. Spinnweben wisperten über seine Finger, trockener Mauerputz regnete auf den Boden, und schließlich ertastete er das narbige Metall. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Knarrend gab sie nach, warme New Yorker Nachtluft strömte ihm entgegen. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Aus alter Gewohnheit verkeilte er mit dem Fuß einen Ziegelstein in der Tür. Dann steckte er die Hände in die Hosentaschen seines Anzuges und schlenderte über die weite Fläche des Daches. Dunkel ragten die Lüftungsschächte vor ihm auf, rammten ihre schwarzen Spitzen in die Nacht.

Über ihm hingen dichte Wolken am Himmel, erleuchtet durch die Millionen Lichter der Stadt. Rouven lief zum Rand des Daches und blickte hinunter: Viele Stockwerke unter ihm rauschte der Verkehr durch die Straßenschluchten, reihten sich die Autos zu leuchtenden Perlenketten aneinander.

Für einen Moment verbanden sich die vielen Tausend Schicksale um ihn herum wie Noten zu einer gewaltigen Symphonie des Lebens, die träge durch die Adern der Stadt floss.

Er lehnte sich an einen der metallenen Lüftungsschächte, tastete nach seiner Brusttasche, aber fand sie leer. Ach ja, er hatte ja aufgehört. Als Teil seines neuen Lebens. Das morgen begann, unaufhaltsam.

Hinter ihm erklangen Schritte und er drehte den Kopf etwas zur Seite.

»Privatparty?«, fragte Neil. Er stellte eine Whiskeyflasche auf den Betonsockel, der rund um das Dach verlief.

»Sind die besten.« Rouven musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sein bester Freund verschmitzt lächelte. »Aber du solltest wieder runtergehen. Ich bin sicher, die Damenwelt vermisst den neuen ersten Geiger der New Yorker Philharmoniker.«

Neil hatte sich in den Jahren, seit Rouven ihn zum Orchester geholt hatte, einen regelrechten Fanclub erspielt. Er war ein Ausnahmetalent, und Rouven hatte es genossen, ihn zu fördern. Ihn als seinen Nachfolger aufzubauen. Mit seinen blonden Dreadlocks und den grauen Augen fiel Neil im Konzertsaal nicht nur durch sein Können auf. Rouven musste zugeben, dass das ein Teil des Vergnügens für ihn gewesen war: zu sehen, wie die arrivierten Opernfreunde New Yorks auf den jungen Geiger reagierten.

Dass sie trotz des Altersunterschiedes Freunde geworden waren, hatte ihn überrascht. Er war immer ein Einzelgänger gewesen. Und Neil war jung genug, um sein Sohn zu sein.

Trauer strich mit feinen Fäden über sein Herz. Irgendwann, in einem anderen Leben, hatte er einmal vorgehabt, zu heiraten. Kinder zu haben. Mit einer ganz bestimmten Frau.

»Sie sind eigentlich hier, um deinen Abschied zu feiern«, unterbrach Neil seine Gedanken.

»Mag sein«, sagte Rouven. »Ich hab nicht darum gebeten.«

»Sieh es so: Es ist der letzte Galaabend, zu dem du gehen musst. Ab jetzt keine Benefizveranstaltungen mehr. Nie mehr Arschküssen bei reichen Mäzenen.« Neil spitzte die Lippen und produzierte einen schallenden Luftkuss.

Rouven grinste. »Hast du die Flasche nur zum Ansehen mitgebracht?«

Neil reichte sie ihm und Rouven nahm einen Schluck. Der Whiskey brannte auf der Zunge, dann lief er in einer feurigen Spur seine Speiseröhre hinunter.

»Weißt du schon, was du jetzt tun wirst?«

»Ich hab da vor ein paar Jahren dieses Haus gekauft«, sagte Rouven und führte die Flasche wieder an seine Lippen.

»Du hast es renovieren lassen, oder?«, fragte Neil.

Rouven kniff die Augen zusammen. Die Lichtpunkte zu seinen Füßen verschwammen, flossen ineinander und bildeten ein kompliziertes Muster. »Ich denke, ich werde dort einige Zeit verbringen. Ich hab da diesen Auftrag angenommen. Eine Oper. Dort könnte ich in Ruhe komponieren. Mal sehen.«

»Wann warst du das letzte Mal dort?«

»Ist schon eine Ewigkeit her.«

»Warum hast du es damals gekauft?«

Ein trockener Windstoß wirbelte übers Dach.

»Nostalgie«, sagte Rouven, dann klopfte er auf die Brusttasche.

Neil reichte ihm wortlos ein verknautschtes Päckchen Zigaretten. »Zur Feier des Tages«, sagte er. »Ab morgen bist du dann Nichtraucher.«

Das klang durchaus vernünftig. Rouven steckte eine Zigarette an, inhalierte den Rauch und atmete langsam aus.

»Wie heißt das Nest noch einmal, in dem dein Haus steht?«, fragte Neil nach einer Weile. »Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass du mir doch fehlen wirst. Oder ich Urlaub im Nirgendwo machen will.«

»Finley Meadows«, sagte Rouven. Er hatte den Namen seit Jahren nicht mehr ausgesprochen und war überrascht, wie selbstverständlich er über seine Zunge rollte.

»Das ist also dein Plan? Du möchtest dich in diesem Kaff zur Ruhe setzen und komponieren?«, fragte Neil. »Ich kann mir das nicht vorstellen. Du bist ein Stadtmensch. Bis Weihnachten bist du wieder hier.«

»Vielleicht«, sagte Rouven und beobachtete den Rauch, der von der Glut seiner Zigarette aufstieg. Jeder Windstoß wirbelte die schlanke Säule wild herum, löschte sie für kurze Momente ganz aus.

»Dein Leben ist hier, Rouven«, sagte Neil. »Du bist der verdammt beste erste Geiger, den dieses Orchester jemals hatte. Niemand versteht, warum du deinen Vertrag gekündigt hast. Hast du eine Midlife-Crisis? Bist du dafür nicht schon zu alt?«

Mit dem Absatz seines Schuhes trat Rouven die Zigarette aus. Es war Zeit zu gehen. Dieses Gespräch nahm definitiv die falsche Richtung.

»Ich werd dann mal«, sagte er. »Danke für die Zigarette.« Er klopfte Neil auf die Schulter.

»Da steckt eine Frau dahinter, oder?«, rief ihm Neil hinterher. »Wann hast du sie kennengelernt?«

»Ach«, sagte Rouven, ohne sich umzudrehen, »vor einer Ewigkeit.«

***

Botox? Adele schmunzelte, als ihr Blick auf die Anzeige in der Zeitung fiel, die jemand im Diner hatte liegen lassen. Sie klemmte sich die Zeitung unter den Arm und wischte mit einem Tuch über den ohnehin sauberen Tisch. Der Ansturm zu Mittag war vorüber und so machte sie es sich mit einem Espresso hinter der Theke gemütlich. Die wenigen Gäste saßen plaudernd an den bunt gedeckten Tischen.

Draußen brannte die Septembersonne unerbittlich auf die Stadt herab, viel zu heiß für die Jahreszeit. Adele war froh, im klimatisierten Inneren des Diners zu sein. Sie strich die Zeitung glatt und las die Anzeige, die ihr zuvor aufgefallen war.

Anscheinend hatte der örtliche Zahnarzt eine Fortbildung besucht und bot nun auch diverse Schönheitsbehandlungen an.

Nicht so ganz das Richtige für mich, dachte sie amüsiert. Viele ihrer Freundinnen hatten schon vor Jahren begonnen, sich die Haare zu färben und teure Cremes zu verwenden, aber Adele wollte diesen Aufwand einfach nicht betreiben. Ihr Mann hatte sie schön gefunden, so wie sie war. Zumindest bis er die letzten Jahre seines Lebens nach dem Unfall im Dämmerzustand verbracht hatte.

Sie blätterte um und las die Spalte mit dem Klatsch und Tratsch der Kleinstadt. In den wenigen Tagen bis zum Kürbisfest lagen die Nerven blank. Zwischen dem Verband der lokalen Bauersfrauen und dem Gesangsverein tobte ein Kleinkrieg um die richtige Farbe der Dekoration. Bei der jüngsten Sitzung hatten zwei Damen nur unter Mithilfe der örtlichen Feuerwehr getrennt werden können. Adeles Mundwinkel zuckten, als sie den Bericht überflog.

Die Türklingel ließ sie aufblicken. Eine ältere Dame und ein blondes Mädchen kamen ins Lokal. Während die Kleine mit großem Ernst Kuchenstücke aus der Vitrine aussuchte, hing Adele ihren Gedanken nach. Bald würde die Schar der Nachmittagsgäste eintrudeln, um sich mit einem von Reenies Kuchen für die Leistungen ihres Alltags zu belohnen. Seit ihre Schwiegertochter in spe hier arbeitete, war die Nachfrage nach den süßen Köstlichkeiten so groß, dass sie an manchen Tagen bereits vor Feierabend ausverkauft waren.

Adele sortierte die bunt glasierten Kuchenstücke in einen rosa Karton, schlang eine weiße Schleife darum und beugte sich nach vorn, um ihn dem Mädchen zu reichen.

»Sind die alle für dich?«, fragte sie lächelnd. »Oder darf deine Oma auch ein Stück haben?«

Das Kind überlegte. »Oma darf auch ein Stück«, sagte sie schließlich und nickte so heftig, dass ihre dünnen Zöpfe flogen. Die Großmutter lachte auf. Nachdem sie bezahlt hatte, verließen die beiden das Diner. Adele blickte ihnen nach und dachte schmunzelnd an Charlie, ihren Enkel. Ob er wohl auch so bereitwillig teilen würde?

Als sie sich an die Theke lehnte, knackte irgendetwas in ihrem Rücken, und sie zuckte zusammen. Sie massierte die schmerzende Stelle, bis die verkrampften Muskeln sich lockerten. Vielleicht sollte sie heute Abend zum See fahren und eine Runde schwimmen, das würde ihr guttun. Auch wenn sie sich eigentlich nach herbstlicheren Temperaturen sehnte, lud die Hitze doch zum Baden ein.

Auf dem Heimweg könnte sie noch ein paar Einkäufe erledigen. Ob ihre Tochter Jill wohl heute Abend zu Hause war?

Ein tiefes Brummen dröhnte von der Straße herein. Adeles Augen blieben an dem Motorrad hängen, das gerade auf den Parkplatz vor dem Diner einbog.

Summende Unruhe machte sich in ihrem Inneren breit. Sie runzelte die Stirn. Das Motorrad war eine alte Triumph.

Wie lange hatte sie keine mehr gesehen?

Adeles Herz setzte für einen Schlag aus.

Es ist nur ein Motorrad, nichts weiter. Nur ein Motorrad.

Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen die Erinnerungen, die sie mit einem Mal zu überschwemmen drohten. An den Rändern ihres Bewusstseins wirbelten Gesprächsfetzen und Bilder aus längst vergangenen Zeiten. Nur mühsam kämpfte sie den Drang nieder, sich die Ohren zuzuhalten, als könnte sie damit die unerbittlich wispernden Stimmen in ihrem Inneren aussperren.

Der Fahrer stellte den Motor ab und sah sich um. Durch die dunkle Sonnenbrille konnte Adele seine Augen nicht erkennen, nur sein Mund und sein Kinn waren zu sehen.

Dieser blonde Bart, diese Lippen … Prickelnd erhoben sich die feinen Härchen in Adeles Nacken.

Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte der Fahrer ihr den Kopf zu. In Adele schrie alles danach, einfach wegzulaufen, aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Wie in Trance sah sie zu, als er langsam die Hände hob und mit feingliedrigen Fingern den Verschluss unter dem Kinn löste. Wie er den Helm abnahm.

Das kann nicht sein. Das ist nicht möglich.

Für einen langen Moment standen beide nur da und sahen sich durch die Fensterscheibe an. Die Luft zwischen ihnen war aufgeladen, summte vor Energie, bis Adele meinte, sie auf ihrer Haut spüren zu können. Dann erschien ein zaghaftes Lächeln auf seinem Gesicht. Er setzte sich in Bewegung und ging auf die Tür des Diners zu.

Hilflos beobachtete sie, wie er sie öffnete und den Raum betrat. Ein heißer Luftzug wirbelte an ihm vorbei, fegte Papierservietten zu Boden, strich knisternd über die Zeitungsseiten und berührte dann ihre Haut, als hätte der Mann zärtlich über ihr Gesicht gestreichelt.

Sie wunderte sich beiläufig, warum keiner der Gäste aufschreckte. Konnte denn niemand sehen, was hier los war? Aber im Diner blieb es bis auf ein paar neugierige Blicke friedlich, und der Mann kam immer näher, den Motorradhelm unter dem Arm. Er ließ sich auf dem Barhocker vor ihr nieder.

»Hallo, Adele«, sagte er heiser. Seine Stimme raste wie ein Feuersturm über sie hinweg, verbrannte den Sauerstoff und nahm ihr die Luft zum Atmen.

Adele klammerte sich am Tresen fest, ihre Fingerknöchel weiß unter der Haut.

Sie musste dem hier ein Ende setzen. Schnell. So lange sie noch halbwegs klar denken konnte. Adele räusperte sich und zählte innerlich bis drei.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie dann, ihre Stimme brüchig wie altes Pergament, »aber kennen wir uns?«

***

Wie es weitergeht, erfahrt ihr in „Küss mich zum letzten Mal“.

Leseprobe FM2 / Küss mich zum letzten Mal

Wer am Ende der Leseprobe wissen will, wie es weitergeht, der findet das Buch hier auf Amazon.

Die Siebziger: Frauen verbrannten ihre BHs, die Hippies tanzten in den Straßen und liebten sich in den Parks, und die Gleichberechtigung aller Menschen schien zum Greifen nah. Die Welt war an der Schwelle zu einer besseren Zeit, alles schrie Veränderung und der Geschmack von einem besseren Morgen lag in der Luft.
Nichts davon erreichte Finley Meadows. Das Leben hier war, wie es immer gewesen war, und die Berichte in den Zeitungen waren so exotisch, als kämen sie aus fremden Ländern.
Meine beste Freundin Hetty war wie geschaffen für diese Zeit: Sie wollte etwas erleben, Karriere machen, auf eigenen Beinen stehen. Sie träumte davon, in fremde Länder zu reisen und verrückte Dinge zu tun. Sie wollte nach Venedig, nach Rom und Paris. Auf die Pyramiden klettern, den Orientexpress nehmen und danach eine Kreuzfahrt nach Australien machen.
Ich dagegen, gerade zwanzig geworden, arbeitete zwei Vormittage die Woche als Sprechstundenhilfe beim örtlichen Kinderarzt, lebte bei meinen Eltern, half auf der Farm und verbrachte so viel Zeit wie möglich mit dem Kopf in meinen Büchern.
Mein Traum war langweilig im Vergleich zu Hettys: Ich wollte Literatur studieren. Aber meine Mutter lächelte nur müde, wenn ich das Gespräch darauf brachte.
Sie war eine zarte Frau Mitte vierzig, durch die harte Arbeit auf der Farm frühzeitig gealtert. Hinter ihren tiefen Falten, der einfachen Kleidung und den schwieligen Händen konnte man noch die Schönheit erahnen, die mein Vater einst geheiratet hatte: Schlank, braunhaarig und mit blitzenden Augen war sie auf dem Hochzeitsfoto abgebildet. Die Jahre hatten nur eine brüchige, pergamenttrockene Version davon zurückgelassen.
Mein Vater wirkte neben ihr wie ein wütender Stier. Stämmig, glatzköpfig und rotwangig war er der unumschränkte Herrscher dieser kleinen Welt und seine Pläne für mich waren klar. Meine Mutter und ich hatten seinem Willen nichts entgegenzusetzen.
Ich war ihr einziges Kind geblieben, da meine Mutter nach der schwierigen Geburt keine Kinder mehr bekommen konnte. Unsere Farm war eine der größeren in der Umgebung. Es war kein Geheimnis, dass mein Vater mich unter die Haube bringen wollte. Und so gab es einige Männer, die als »Freunde der Familie« bei uns verkehrten. Ich hasste sie alle.
Mein Vater, der schon auf die Sechzig zuging, hielt mir Vorträge über die Zukunft. Ich denke, er meinte es gut. Auf seine raubeinige Art. Er wollte meine Mutter und mich versorgt wissen. Zwei Frauen, die eine Farm dieser Größe alleine bewirtschafteten? Völlig undenkbar. Dass wir vielleicht einmal gezwungen sein könnten, sie zu verkaufen, wenn er krank werden sollte, bereitete ihm schlaflose Nächte. Ein zupackender Schwiegersohn war in seinen Augen genau die Absicherung, die die Farm brauchte.


Als ich an dem warmen Frühsommerabend mit einer Schüssel grüner Bohnen aus der Küche kam, sah ich ihn: Mit zurückgegelten Haaren und einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, saß er gegenüber meines üblichen Platzes am Tisch. Er unterhielt sich mit meinem Vater über einen Bullen, den er ihm kürzlich abgekauft hatte.
Ich verdrehte innerlich die Augen und stellte die Schüssel ein wenig fester als notwendig auf den Tisch.
»Adele, das ist Herbert«, sagte mein Vater mit derselben Stimme, die er für störrische Kühe verwendete.
»Wir kennen uns«, murmelte ich und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Wie hätten wir uns auch nicht kennen können? Finley Meadows war ein Nest mit wenigen hundert Einwohnern. Jeder kannte jeden.
»Hallo, Adele«, sagte Herbert von der anderen Seite des Tisches und knetete die Serviette in seinen Händen.
»Hallo«, murmelte ich und beugte mich über den Tisch, um mir Eistee einzuschenken. Herbert schnellte hoch, griff nach dem Krug und stieß ihn mit einer ungelenken Bewegung um. Der Eistee ergoss sich über den Tisch und ich sprang auf.
»Es tut mir leid«, stammelte Herbert. Er tupfte mit der Serviette an seiner Hose herum, die nun von großen, feuchten Flecken verziert war. Sein Gesicht war flammend rot, als er nach einer hastig gemurmelten Entschuldigung im Badezimmer verschwand.
Ich seufzte.
»Ist das dein Ernst? Herbert?«, fragte ich meinen Vater mit gesenkter Stimme.
Seine Augenbrauen senkten sich bedrohlich. »Er ist ein netter junger Mann aus guter Familie. Du bist zu wählerisch, Adele. Du bist nicht mehr die Jüngste. Du brauchst einen Mann, um diese Farm zu führen, wenn ich alt und krank bin.«
»Er hört gerne Jodel-Musik.«
»Das ist doch Blödsinn. Was hat das damit zu tun, dass er dich nett findet und dich gerne kennenlernen würde?«
»Dad, bitte schick ihn weg«, sagte ich und tupfte die Überschwemmung am Esstisch mit einem Tuch auf.
»Du wirst ihm eine Chance geben, Adele! Ich will nichts mehr hören.«
In mir brodelte es, aber ich ließ mich wieder auf meinen Platz fallen. Ich konnte meinem Vater nicht offen widersprechen, aber ich würde auch nicht tun, was er von mir verlangte.
Herbert tauchte im Türrahmen auf. Als wüsste er mit seinen Armen nicht umzugehen, schlackerten sie um ihn herum, während er zum Tisch zurückkam.
Das Abendessen zog sich endlos in die Länge und ich überließ es meinem Vater, Konversation zu machen. Meine Mutter saß mit gesenkten Lidern neben ihm und beteiligte sich kaum. Was hältst du davon, fragte ich sie im Stillen. Hilf mir. Ich seufzte. Wie immer hatte ich keine Ahnung, was meine Mutter eigentlich dachte.
Als mein Vater endlich aufstand, um nach dem Essen eine Zigarette zu rauchen, sprang ich auf. Ich wollte gerade in mein Zimmer verschwinden, als Herberts Hand mich am Ärmel zupfte.
»Würdest du gerne mit mir einen Spaziergang machen?«, fragte er und nestelte an seinem Hemd herum. Seine Zähne waren zu groß für seinen Mund und ich musste an einen grinsenden Biber denken.
Ich wollte gerade Kopfweh vortäuschen, als mein Vater ihm auf die Schulter schlug. »Sicher will sie das, nicht wahr, Adele? Sie liebt Abendspaziergänge. Zeig ihm doch die neuen Tränken, die wir letzte Woche auf der hinteren Koppel eingebaut haben. Das interessiert Herbert sicher.«
Damit schob er uns beide in Richtung Haustür. Ich suchte krampfhaft nach einer Ausrede, die mein Vater akzeptieren würde. Ich wollte Herbert nicht verletzen, aber romantische Zeit mit ihm … Ich schauderte.
»Viel Spaß, ihr zwei«, sagte mein Vater, als wir auf die Veranda traten, grinste Herbert an und schlug die Tür hinter uns zu.
Herbert und ich standen für einige Momente schweigend voreinander, und das Zirpen der Grillen hallte in der verlegenen Stille zwischen uns.
»Ich würde die Tränken wirklich gerne sehen«, nuschelte er dann mit nervös zuckenden Augenlidern. Ich nickte und seufzte. Wir machten uns auf den Weg. Ich wollte das alles schnell hinter mich bringen und dann nur noch in mein Bett, aber Herbert schien anderer Meinung zu sein. Er schlenderte dahin, zeigte mir irgendwelche Sternbilder und streifte meine Hand mit seiner, so oft es ging. Als wir bei der Koppel angekommen waren, trat er einen Schritt näher. Er gähnte, streckte sich und legte den Arm um meine Schulter.
»Das ist eine besondere Nacht mit einer besonderen Frau«, sagte er und ich fragte mich, in welchem Film er das wohl aufgeschnappt hatte.
»Äh, sicher«, sagte ich, und duckte mich unter seinem Arm weg. »Das hier sind übrigens die Tränken.« Ich deutete auf die metallischen Behälter. Herberts schwitzende Hand griff nach meiner und ich unterdrückte den Impuls, sie ihm wieder zu entreißen. »Ich bin schon müde, Herbert«, sagte ich stattdessen. »Ich möchte heim.« Ich löste meine Finger vorsichtig aus seinen und drehte mich um.
Hoffentlich hat er die Botschaft verstanden. Während ich zügig auf das Haus zusteuerte, plapperte er etwas über die Schönheit der Farm und wie sehr ihn die Konstruktion der neuen Viehtränke beeindruckt hatte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, brummte ab und an und war froh, als wir endlich die Stufen der hölzernen Veranda erreichten. »Danke für den Spaziergang«, sagte ich, »und gute Nacht.«
Ich wollte mich gerade abwenden, als er plötzlich tief Luft holte, einen kleinen Satz nach vorne machte und seine feuchten Lippen auf meine drückte. Ich drehte den Kopf hastig zur Seite und wollte mich aus seiner Umarmung befreien, aber er war überraschend stark.
»Adele«, keuchte er in mein Ohr, »ich liebe dich. Ich verzehre mich nach dir.«
Ich schauderte und stemmte meine Fäuste gegen seine Brust. »Lass mich los, Herbert!«, zischte ich.
Aber seine Arme gaben keinen Millimeter nach, und seine Erektion drückte sich überdeutlich durch den Stoff seiner Hose gegen meinen Bauch. Panik und Übelkeit stiegen in mir auf. »Du sollst mich loslassen«, schrie ich und hämmerte auf seinen Brustkorb.
»Du bist noch so unerfahren, Adele, eine zarte Blüte«, keuchte er mit heißem Atem in mein Ohr. Seine Finger grabschten nach meiner Brust.
Ein Würgen stieg in meinem Hals auf, als sich plötzlich ein Schwall eiskalten Wassers über uns ergoss. Ich blinzelte und blickte nach oben. Meine Mutter sah auf uns herab und zog den Eimer zurück, den sie gerade über uns ausgeleert hatte.
»Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Herbert«, sagte sie ruhig. Ich starrte sie an, als wären ihr gerade zwei Hörner gewachsen.
Herbert schnappte nach Luft und wollte etwas erwidern, als Scheinwerfer die Hauswand streiften. Ein Auto kam die Zufahrt zu unserem Hof entlanggerollt.
»Das ist meine Mutter«, sagte er. »Sie hat mich am Weg zu ihrem Bridge-Abend hier abgesetzt und holt mich jetzt wieder ab.«
Dann stelzte er steif die Treppen hinunter und ging dem Auto entgegen, während Wasser aus seinen Hosenbeinen tropfte.


Am folgenden Nachmittag, als ich gerade einen Korb mit nasser Wäsche in den Garten geschleppt hatte, hielt ein Auto vor unserem Haus.
Ich blickte stirnrunzelnd auf und griff dann nach dem nächsten Stück. Hoffentlich nicht Herbert.
Ich schüttelte den Gedanken ab. Der Tag war warm und die leichte Brise würde die Wäsche in kurzer Zeit trocknen. Ich steckte gerade das gelb karierte Tischtuch mit einer Wäscheklammer fest, als ein Schatten auf den Stoff fiel.
»Hallo Adele.«
Ich blinzelte und sah Jake hinter mir stehen. Er war der Bruder meiner besten Freundin Hetty, und er war nett genug, uns manchmal mit seinem Auto zu den Tanzabenden zu bringen. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm in die dunkelbraunen Augen zu sehen. Wie üblich war er mit alten Jeans und T-Shirt bekleidet und seine dunklen Haare waren staubig von der Arbeit auf dem Feld.
»Hi.« Ich lächelte ihn an und zog eines der Leintücher aus dem Korb. Er schnappte sich ein Ende und half mir, es glattzustreichen.
»Was machst du hier?«, fragte ich ihn.
»Ich will mit deinem Vater darüber verhandeln, ob er mir die Nordweide verpachtet.«
Seit Hettys und Jakes Eltern vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben waren, führte Jake die Farm weiter und kümmerte sich um seine kleine Schwester. Da er eigentlich ständig mit Arbeit beschäftigt war, genossen Hetty und ich dort viel mehr Freiheiten als im Haus meiner Eltern.
»Und Hetty will wissen, ob du heute bei ihr übernachtest.«
Ich nickte. »Ich muss nur schnell meine Mum fragen.«
»Ich kann dich dann gleich mitnehmen.«
Er reichte mir das letzte Stück aus dem Wäschekorb, zwinkerte mir zu und ging zum Haus.
Ich hielt mein Gesicht für einen Moment in die Sonne und genoss die Strahlen auf meiner Haut. Dann schnappte ich meinen Korb und folgte Jake. Meine Mutter würde Ja sagen, da war ich sicher.
Nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, lief ich in mein Zimmer. Ich schlüpfte in frische Shorts und eine Bluse. Dann stopfte ich neben meinem Lieblingsnachthemd auch Make-up und ein geblümtes Sommerkleid in die Tasche, nur um sicherzugehen. Hetty war unberechenbar und vielleicht beschloss sie kurzerhand, dass sie heute Abend tanzen wollte.
Ich warf noch ein Buch hinein, dann polterte ich die Treppen hinunter und drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Sie strich mir übers Haar und reichte mir einen Korb mit frischgebackenem Brot und Apfelsaft aus der Vorratskammer. Ohne Geschenk für den Gastgeber irgendwo hinzugehen, war für meine Mutter völlig unvorstellbar, auch wenn ich in den Ferien nahezu jeden Tag bei Hetty war.
Ich wollte gerade nach draußen verschwinden, als mein Vater mich durch die angelehnte Türe seines Arbeitszimmers rief. Ich seufzte.
Das Arbeitszimmer meines Vaters war ein düsterer Raum. Eingerichtet mit wuchtigen Möbeln, schien alles hier über die Jahre seine Abneigung gegen Büroarbeit absorbiert zu haben. Die dichten Bäume und Sträucher vor dem Fenster schirmten das Sonnenlicht ab, und so musste mein Vater auch an hellen Sommertagen die Messinglampe auf seinem Schreibtisch einschalten.
Verstreut auf dem Tisch lagen Stapel an Rechnungen, Kontobüchern und Briefen. Es war meiner Mutter nicht erlaubt, hier Ordnung zu machen, und so überzog eine feine Staubschicht die Möbel. Die Luft roch nach altem Papier.
Wie üblich krabbelte Nervosität auf Spinnenbeinen über meinen Rücken. Ins Büro meines Vaters gerufen zu werden, bedeutete nichts Gutes.
Er saß mit einer Zigarette in der Hand hinter dem Tisch und deutete auf den schweren Ledersessel ihm gegenüber. Ich ließ mich darauf nieder, das Leder war unangenehm kühl unter der Haut meiner nackten Beine.
Ich legte meine Hände in den Schoß, während mein Vater mich musterte. Er schien etwas zu überlegen, aber sein Gesichtsausdruck war unleserlich.
»Jake wartet draußen«, sagte ich schließlich leise.
Er nahm einen Zug von seiner Zigarette. Der Rauch stieg in komplizierten Mustern auf und hing dann in einer metallisch blauen Wolke unter der Zimmerdecke.
»Es tut mir leid, dass ich versucht habe, dich zum Heiraten zu drängen«, sagte er plötzlich.
Mir blieb der Mund offen stehen.
»Ich werde mich nicht mehr einmischen.« Er nahm einen neuen Zug.
Irgendetwas an seinem Tonfall machte mich misstrauisch, aber ich konnte den Finger nicht darauf legen. »Danke, Dad«, sagte ich vorsichtig. Hat er ein schlechtes Gewissen wegen Herbert? Irgendwie bezweifelte ich es. Mein Vater tat selten etwas ohne Hintergedanken.
Er winkte mit seiner Hand in Richtung Tür und ich erhob mich. Ich war entlassen.
Als ich vor die Tür trat, lehnte Jake an der Motorhaube seines türkisen Ford Pick-up und grinste mich an. In wenigen Sätzen sprang er die Stufen der Veranda hinauf und nahm mir Tasche und Korb ab.
»Kuchen?«, fragte er und schnupperte hoffnungsvoll. Ich musste lachen.
»Du bist verfressen«, sagte ich. »Diesmal nicht. Sie schickt euch frischgebackenes Brot und Apfelsaft.«
Jake zog ein langes Gesicht. »Ich kann nichts dafür. Hettys Kochkünste reichen gerade für Ham and Eggs, und wenn deine Mutter uns nicht regelmäßig Kuchen schicken würde, müsste ich glatt verhungern.«
»Armer Jake«, sagte ich gedehnt und kletterte auf den Beifahrersitz. »Ich werde mal sehen, was ihr für Zutaten daheim habt. Wenn ich fündig werde, kann ich einen Kuchen für dich backen.«
»Ah, ein Mädchen nach meinem Geschmack.« Er startete den Wagen.


»Stoßen wir an auf … Träume, die in Erfüllung gehen.« Hetty hielt ihr Glas in die Höhe. Ihre dunklen Augen blitzten. Die lockigen, braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihr knapper Rock und das enge Oberteil mit dem psychedelischen Muster betonten ihre Kurven. Wie üblich zog sie die Aufmerksamkeit der Männer des Lokals auf sich. Mit meiner schlaksigen Figur und den glatten, braunen Haaren fühlte ich mich fast unsichtbar neben ihr.
Jake und ich prosteten ihr zu und nahmen einen Schluck von dem billigen Sekt. Die Bläschen kitzelten in meiner Nase und stiegen direkt in mein Gehirn.
»Was feiern wir?«, fragte ich Hetty, als ich mein Glas wieder auf die zerkratzte Tischplatte stellte. Ich musste mich ein wenig nach vorne lehnen, denn die Country-Musik dröhnte laut durchs Lokal. Die Band auf der Bühne schien wirklich Spaß zu haben.
»Wir feiern, dass ich eine Stelle beim Außenministerium ergattern konnte. Ich werde in Kürze als Sekretärin eines Botschafters arbeiten.«
»Das ist ja großartig, Hetty. Ich bin so stolz auf dich.« Ich sprang auf, warf die Arme um meine Freundin und drückte sie fest. »Wann hast du die Zusage erhalten?« Wir hatten die vergangenen Wochen gemeinsam gefiebert, auf die Antwort gewartet. Nun war es also so weit.
»Heute Morgen.« Hetty grinste von einem Ohr bis zum anderen. »Ich soll mich in zwei Wochen in New York melden, von da aus werde ich einen Diplomaten begleiten. Unsere erste Reise führt uns nach Paraguay. Kannst du dir das vorstellen? Ich werde reisen, wie ich es immer geplant habe!«
Ich nickte, plötzlich mit einem dicken Kloß im Hals. Hetty würde wirklich weggehen.
»Ich bin stolz auf dich, kleine Schwester«, sagte Jake. »Auch wenn ich jetzt  verhungern werde«, fügte er mit Grabesstimme hinzu.
»Ach, Adele wird sich um dich kümmern, stimmt’s?« Hetty boxte mich in die Seite.
Ich musste lachen. »Wird mir eine Ehre sein. Mum ist sicher außer sich vor Sorge, wenn sie hört, dass Jake ohne weibliche Hilfe zurückgelassen wird. Ich denke, dass ich öfter mal den Auftrag bekommen werde, einen Korb mit Essensrationen zu eurer Farm zu bringen.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Er lächelte, aber in den Tiefen seiner Augen saß Traurigkeit. Es musste hart für ihn sein, seine kleine Schwester ziehen zu lassen. Er hielt meinen Blick für einen kurzen Moment. Ein wortloses Verständnis summte zwischen uns beiden: Wir würden Hetty unterstützen, auch wenn es uns schwerfiel.
Plötzlich prickelten Tränen in meinen Augen. Ein selbstsüchtiger Teil von mir wollte sie überreden, hier zu bleiben.
Reiß dich zusammen! Das ist Hettys großer Traum, den wirst du ihr nicht verderben.
»Entschuldigt mich kurz, ich muss mal für kleine Mädchen.« Ich rutschte vom Barhocker, machte mich auf den Weg quer durchs Lokal und verließ dann die Bar durch den Hintereingang. Draußen parkten Autos, zwischen denen verliebte Paare eng umschlungen umherschlenderten. Ich machte ein paar Schritte, lehnte mich an einen der Wagen und legte den Kopf in den Nacken.
Hetty würde wirklich weggehen. Nach all den Jahren, die sie davon geträumt hatte. Jetzt war es so weit und ich fühlte mich unvorbereitet. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie mein Leben ohne ihre Wärme, ihre Lebendigkeit und ihren Witz aussehen würde. Ich vermisste sie bereits jetzt.
Über mir breitete sich der sternenübersäte Himmel aus. Plötzlich hatte ich das Gefühl, zu fallen. Als würden die Sterne meinen Namen rufen, mich in die samtige Dunkelheit über mir ziehen.
»Schlechter Abend?«, fragte eine tiefe Stimme neben mir.
Mir war nicht danach zu reden, also zuckte ich einfach mit den Schultern und hoffte, der Fremde würde wieder gehen.
»Die Sterne können einem nicht helfen, aber manchmal kann es die Musik«, sagte der Mann.
Ich schnaubte. »Sicher«, sagte ich und hielt die Augen stur nach oben gerichtet. Warum verschwand er nicht einfach?
Es raschelte neben mir. Plötzlich erklang leise eine traurige Melodie. Mein Blick flog zu ihm und ich sah, dass er auf einer Geige spielte. Ich konnte ihn nicht erkennen, denn er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen.
»Schleppst du immer eine Geige herum, wenn du versuchst, Mädchen aufzureißen?«, fragte ich. »Das ist auf alle Fälle originell.«
»Man tut, was man kann«, sagte er und ein Grinsen war in seiner Stimme zu hören, während er weiterspielte.
Ein kleiner, wohliger Schauer lief über meinen Rücken, und ich ließ den Kopf wieder in den Nacken fallen. Die Melodie hüllte mich ein, tröstend wie eine Umarmung. Es war, als hätte er den Kummer in meiner Seele gelesen und könnte ihn in Musik übersetzen. Als er geendet hatte, fühlte ich mich verstanden. Und enttäuscht, dass die Musik verstummt war.
»Danke«, flüsterte ich dem Unbekannten zu.
Statt mir zu antworten, zog er mich zu sich und küsste mich zärtlich. Ich war für einen Moment wie erstarrt, aber dann entwickelte mein Körper ein Eigenleben. Unendlicher Hunger breitete sich in mir aus. Ich drängte mich näher an ihn und erwiderte seinen Kuss, ließ meine Hände über seine Brust wandern, stöhnte auf unter der Zärtlichkeit seiner Finger. Dieser Mann war mir so vertraut, als würden wir uns seit Jahren kennen.
Als er den Kuss schließlich unterbrach, atmeten wir beide schwer. »Wow«, brummte er und fasste nach meiner Hand. Er zog mich hinter sich her zurück Richtung Bar und ich folgte ihm benommen. Bevor wir hineingingen, blieb er stehen. Und dort, unter dem flackernden Neonlicht der Reklametafel, sah ich ihn zum ersten Mal: Blonde Haare, die ein wenig zu lang waren, um hier in Finley Meadows als ordentlicher Haarschnitt zu gelten. Blitzblaue Augen, die mich nicht loslassen wollten. Ein markantes Kinn mit einem blonden Drei-Tage-Bart. Lippen, so voll und sinnlich, dass ich mich unwillkürlich näher lehnte. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand in den Bauch geboxt.
»Ich denke, du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, murmelte er und beugte sich wieder zu mir. Seine Lippen streiften fordernd die meinen und ich presste mich an ihn, ohne nachzudenken. Das hier war Irrsinn, aber es fühlte sich einfach so verdammt richtig an.
»Ich muss noch einmal auf die Bühne«, sagte er, bevor er zärtlich an meinem Ohrläppchen knabberte. »Wartest du auf mich?«
Ich nickte, weil ich scheinbar die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte. Oder zu denken. Ich folgte ihm in die Bar und sah zu, wie er auf die Bühne zu den anderen Musikern kletterte.
Dann ging ich langsam zu Hettys und Jakes Tisch zurück.
»War die Schlange vor dem WC so lang?«, fragte Hetty und blickte mich stirnrunzelnd an. »Gut, dass ich nicht mitgekommen bin.«
Ich nickte, unfähig, meinen Blick von der Bühne zu lösen. Ich wusste noch nicht einmal seinen Namen, aber seine blauen Augen brannten auf meiner Haut.
»Geht’s dir gut?«, fragte Jake. Ein Teil von mir registrierte die verwunderten Blicke, die sich die Geschwister zuwarfen, aber es war mir egal. Ich konnte nur an den Mann denken, der mich eben geküsst hatte. Der mich gebeten hatte, auf ihn zu warten.
Als ich da stand und dabei zusah, wie er auf der Bühne seiner Geige Melodien entlockte, wurde mir klar, dass ich schon immer auf ihn gewartet hatte. Und immer auf ihn warten würde.


Die Menge jubelte. Der Mann mit der Geige lächelte mich an. Sein Blick fing meinen und hielt ihn fest. Selbst von der Bühne aus konnte er mein Herz dazu bringen, schneller zu schlagen.
Noch eine letzte Verbeugung, dann verschwand er hinter dem Vorhang. Ich blickte mich im Raum um und reckte meinen Hals, um besser sehen zu können.
»Suchst du jemanden?«, fragte Hetty .
Ich bewegte vage den Kopf, was sowohl Ja als auch Nein hätte bedeuten können.
»Hallo«, sagte eine Stimme hinter mir und ich wirbelte herum. Meine Wangen wurden heiß, während meine Knie ganz plötzlich ihren Dienst versagten. Ich griff instinktiv nach dem Tisch, um mich festzuhalten.
»Und du bist?«, fragte Jake und zog die Augenbrauen hoch. Hetty machte nur große Augen.
»Rouven«, sagte mein Musiker, und der Klang seines Namens tanzte wie knisternde Schneeflocken auf meiner Haut. Er beugte sich zu mir. »Damit bist du im Vorteil. Ich weiß noch nicht einmal deinen Namen«, murmelte er in mein Ohr. Er legte seinen Arm um meine Taille. Als hätten wir es schon hunderte Male so gemacht, lehnte ich mich gegen ihn.
»Ihr habt gut gespielt«, sagte Jake stirnrunzelnd. Hetty strahlte Rouven und mich abwechselnd an.
»Nicht wirklich meine Art von Musik«, sagte Rouven und zuckte mit den Schultern. »Aber gutes Geld.«
»Bist du auf der Durchreise?« Jake nahm einen Schluck Bier, ohne die Augen von Rouven abzuwenden.
»Das war ich«, sagte Rouven und blickte mich dann an. »Aber ich denke, mir gefällt es hier.«
Mein Magen machte einen flatterigen kleinen Salto.
»Sehr sogar«, murmelte er und seine Lippen streiften über meinen Hals. Ich schloss meine Augen und ertrank für einen Moment in dem Gefühl seiner Nähe.
Hettys Kichern ließ mich aufblicken. »Wir werden dann gehen«, sagte sie. »Ich denke, du kommst nicht mit uns mit?«
Ich schüttelte langsam den Kopf.
»Ich bringe sie nach Hause«, sagte Rouven und streichelte über meinen Oberarm. »Oder bis ans Ende der Welt. Wohin sie will.«
»Dachte ich’s mir. Komm, Jake!«, sagte Hetty energisch und zog ihren Bruder am Arm.
Jake sah Rouven mit gerunzelten Augenbrauen an. Sein Blick wanderte zu mir und ich las die Frage darin. Ich nickte und spürte, wie sich ein dämliches Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich würde mit Rouven fahren.


Seine Hand lag noch immer auf meiner Taille, als er mich durch das Gedränge der Bar zum Hinterausgang begleitete. Er hielt mir die Tür auf und samtige Nachtluft schlug uns entgegen. Ich atmete tief ein.
Rouven griff nach meiner Hand und zog mich sanft weiter. Kies knirschte unter meinen Absätzen. Als er stehen blieb, starrte ich für einen Moment auf die blau-schwarze Triumph, die unter einer Straßenlaterne geparkt war. »Du erwartest, dass ich darauf mitfahre?«, fragte ich.
Er grinste und befestigte seinen Geigenkoffer an der Maschine.
»Du hast eine extra Halterung für deine Geige am Motorrad?«
Er lachte leise und kam auf mich zu. »So viele Fragen. Und ich weiß immer noch nicht deinen Namen«, sagte er und blieb ganz nah vor mir stehen. »Aber bevor du ihn mir verrätst …«
Er küsste mich. Seine Liebkosungen breiteten sich wie kleine Schockwellen in jeden Teil meines Körpers aus. In mir brach die letzte Mauer der Vernunft. Es war nicht logisch. Es war eigentlich unmöglich. Aber ich wusste ohne Zweifel, dass dieser Mann mein Schicksal war.


Der Fahrtwind trieb mir Tränen in die Augen und zerzauste mein Haar. Ich drückte mein Gesicht an seine abgewetzte Lederjacke und atmete den herben Geruch ein. Eng an seinen Rücken geschmiegt, raste ich mit ihm durch die Nacht und genoss seine Nähe. Genoss es, nicht reden zu müssen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander und ich war dankbar für diese Pause.
Schließlich wurde Rouven langsamer und brachte das Motorrad zum Stehen.
»Wo sind wir?«, fragte ich und mein Blick wanderte über das alte Herrenhaus vor uns. Erstaunt stieg ich vom Motorrad. Immerhin war ich in der Gegend aufgewachsen, aber dieses alte Haus war mir völlig unbekannt. Es lag alleine in der weiten Landschaft inmitten eines kleinen Wäldchens. Die alte Holzfassade mit den geschnitzten Details war verwittert, die schäbigen Fensterläden geschlossen. Scheinbar wohnte hier bereits seit Jahren niemand mehr.
»Ich möchte dir etwas zeigen.«
Er nahm seinen Geigenkasten, ging vor mir zu einem verrosteten Tor und zog den schmiedeeisernen Flügel vorsichtig auf. Dann bog er die Zweige der Sträucher dahinter zurück und ein Durchgang wurde sichtbar.
Vor uns im silbernen Mondlicht lag ein verwilderter Garten. Die Luft war erfüllt von süßem Duft. An den Rändern standen unzählige Fliederbüsche, deren Blüten in schweren Dolden herabhingen.
»Du hast mich an diesen Garten erinnert«, sagte Rouven. »Überwältigend. Verzaubert. Eigentlich zu schön, um wahr zu sein.«
Er schien keine Antwort zu erwarten, sondern schlang den Arm um mich und zog mich tiefer in den Garten.
»Wem gehört das alles hier?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab es vor einiger Zeit entdeckt, und da das Haus nicht bewohnt ist, war ich schon ein paar Mal hier zum Üben. In meiner Absteige sind die Wände so dünn, dass meine Nachbarn mich lynchen würden, wenn sie jeden Tag mehrere Stunden Mozart, Vivaldi und Fingerübungen hören müssten.«
Ich kuschelte mich in seine Armbeuge.
»Der Garten ist riesig. Eigentlich eher ein Park. Wer immer hier früher gelebt hat, muss ihn sehr geliebt haben. Überall findet man Dinge, die der Besitzer hinterlassen hat: verwitterte Steinstatuen, kleine Lauben, fast zugewachsene Waldwege.«
»Übst du hier jeden Tag?«
Er neigte den Kopf. »Magst du Klassik?«
»Ich weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich mache mir eigentlich nicht so viel aus Musik. Mir sind Bücher lieber.«
Er lachte leise – ein Geräusch, das über mich glitt wie eine Liebkosung. Dann hob er meine Hand zu seinen Lippen und küsste die Innenseite meiner Handfläche. Für eine Sekunde schlüpfte die Zunge aus seinem Mund und schickte eine Hitzewelle über meine Haut.
»Klassische Musik ist wie das Leben«, murmelte er in meine Hand. »Sie ist Liebe und Leidenschaft, Trauer und Leid. Sie ist einfach alles.«
»Dann sollte ich das nicht verpassen«, sagte ich. Ich erkannte meine eigene Stimme kaum, sie klang so rau und kehlig.
»Wann musst du zu Hause sein?«
»Meine Eltern denken, dass ich bei meiner Freundin schlafe. Also habe ich die ganze Nacht.«
Wir spazierten weiter. Keiner von uns wollte die Stille des verzauberten Gartens durch Worte stören. Der bemooste Weg machte ein paar sanfte Wendungen und führte dann zu einem kleinen See, der im Mondlicht glitzerte. Trauerweiden standen ringsum, ihre langen Zweige hingen ins Wasser, das sich unter dieser Berührung kräuselte.
Am Ufer stand eine alte Steinbank. Rouven breitete seine Jacke darauf aus und ich setzte mich. Er öffnete den Geigenkoffer. An der Art seiner Bewegungen sah ich, dass er das bereits tausende Male getan hatte. Er machte ein paar Schritte von mir weg auf den See zu. Mit dem Rücken zu mir setzte er das Instrument an und begann zu spielen.
Träge wie ein altes Liebespaar tanzten Rouvens Finger über die Saiten, während er behutsam den Bogen strich. Töne stiegen auf, wirbelten in der Luft herum und drangen durch meine Haut. Die Melodie breitete sich um uns herum aus und füllte jeden Winkel des Gartens. Ohne Rouvens Gesicht zu sehen, konnte ich ihn spüren − in diesem Stück lagen all seine Gedanken, und ich kannte sie. Sie spiegelten meine eigenen, als hätte er in meiner Seele gelesen.
Ich weiß nicht, wie lange er in jener Nacht für mich gespielt hat. Die Musik verwob sich mit der Umgebung, schuf eine Blase, in der nur wir zwei existierten. Als er schließlich endete, fröstelte ich. Ohne seine Musik fühlte ich mich einsam.
Ich stand auf und ging zu ihm hinüber. Er sah auf den kleinen See hinaus, und ich umarmte ihn.
»Danke«, sagte ich leise. Ich wusste, er hatte mir ein kostbares Geschenk gemacht.
Rouven drehte sich zu mir um. Seine Augen waren so tief wie der See.
»Hattest du Angst, es könnte mir nicht gefallen?«, fragte ich erstaunt.
»Ein wenig«, murmelte er. Und dann küsste er mich.


Als er mich an jenem Morgen zu Hettys Haus brachte, war ich wie in Trance. Die Eindrücke der Nacht vermischten sich mit meinen Gefühlen und Rouvens Nähe zu einem weichen Nebel, auf dem ich schwebte.
Er begleitete mich zur Haustür. Ich lehnte mich gegen seine Brust. Ich war nicht bereit, ihn schon gehen zu lassen, und er schien genauso zu fühlen.
»Hast du heute Nachmittag Zeit?«, fragte er und seine Finger wanderten in spielerischen Kreisen über meinen Rücken. »Länger halte ich es ohne dich nicht aus.«
Ich nickte und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.
Schließlich lösten wir uns widerwillig voneinander. Ich sah ihm zu, wie er auf sein Motorrad stieg, mich anlächelte und dann in einer Staubwolke aus dem Hof fuhr.
Die Sonne stand noch ganz tief am Horizont, als ich die Haustüre öffnete. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und betrat das Vorzimmer. Aus der Küche drangen leise Geräusche, es roch nach gebratenem Speck und Kaffee.
Ich seufzte erleichtert. Hetty war munter. Ich war zum Bersten angefüllt mit Glück, musste einfach mit ihr reden.
Ich lief zur Küchentür, stieß sie auf und erschreckte Hetty dermaßen, dass sie auf dem Absatz herumwirbelte.
»Puh«, sagte sie. »Na, du kommst aber spät.« Sie stemmte die Hände in die Hüften.
Ich fiel ihr um den Hals und lachte.
»Wie war es?«, fragte sie. »Ich will alles ganz genau hören.«
»Es war großartig«, sagte ich. »Ich bin so verliebt, Hetty.«
Sie drückte mich fest. »Oh, wie romantisch.« Als ein verbrannter Geruch in unsere Nasen stieg, fluchte Hetty. »Verdammt!« Sie schob die Pfanne mit dem verkohlten Speck von der Herdplatte.
Ich kicherte und griff nach einer Kaffeetasse, die neben dem Herd stand.
»Für mich?« Sie schüttelte den Kopf.
»Eigentlich mein Kaffee. Aber du kannst ihn haben.«
Als ich mich umdrehte, sah ich Jake ganz still am Küchentisch sitzen.
»Hi, Jake.«
Er antwortete nicht. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen, den ich nicht deuten konnte. Dann stand er auf und verließ wortlos den Raum. Die Küchentür schwang noch ein paar Mal sanft knarrend hin und her.
»Was ist los mit Jake?«, fragte ich Hetty.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke, es gefällt ihm nicht, dass du die ganze Nacht weg warst. Er kennt Rouven nicht und er denkt, er hat die Verantwortung für uns Mädchen. Du weißt ja, wie er ist. Immer vernünftig. Kein Sinn für Abenteuer. Blabla. Vergiss es einfach, er wird sich schon wieder beruhigen.« Sie ließ den verkohlten Speck in den Mülleimer gleiten. »Und jetzt«, sagte sie strahlend, »musst du mir alles ganz genau erzählen.«

Wie es mit Rouven & Adele weiter geht, könnt ihr in „Küss mich zum letzten Mal“ nachlesen. 

Kochen mit Reenie: Eistee

Die Sonne brannte vom Himmel und Reenie lag matt auf ihrem Liegestuhl auf der Veranda. Sie hatte ihr Buch auf ihren Bauch sinken lassen. Selbst zum Lesen war es zu heiß. Neben ihr schwitzte ein Glas Eistee kleine glitzernde Perlen auf die glatte Oberfläche. Funkeln schöner als Diamanten, dachte Reenie träge.
Lenny quietschte auf und Reenie musste lächeln. Lucien hatte einen kleinen Pool für ihn aufgestellt. Die beiden waren gerade dabei, ihn aufzufüllen, und Lenny kreischte vor Vergnügen, wenn Lucien den Wasserstrahl aus dem Gartenschlauch auf ihn richtete. Lou und Jimi tauchten aus dem Haus auf.

»Gibt’s was zu essen?«, fragte Lou.
Reenie schob ihre Sonnenbrille in die Höhe. »Nudelsalat, Wassermelone und Eistee im Kühlschrank, Eis im Gefrierschrank. Selbstbedienung.«
Die beiden zogen in Richtung Küche ab und Reenie hörte, wie sie mit Geschirr klapperten, um schließlich mit vollen Tellern wieder aufzutauchen. Sie ließen sich auf der alten Schaukel nieder und kauten.
»Wir wollen vielleicht noch zum See«, sagte Lou und baumelte mit ihren braungebrannten Beinen. »Wie ist das Wasser?«
»Super.« Reenies Gedanken wanderten zurück zum Morgen. Lucien war mit ihr und Lenny zum See gefahren. Sie hatten ihre Handtücher ganz nahe am Ufer ausgelegt und waren ins Wasser gelaufen. Der See war noch ganz still gewesen und das Wasser hatte ihren Körper weich umschmeichelt. Lenny war mutig zwischen ihnen hin und her geschwommen und sein kleines Gesicht hatte vor Stolz geleuchtet. Seit diesem Jahr brauchte er keine Schwimmhilfe mehr. Damit war er in seinen Augen offiziell ein großes Kind, kein Baby mehr. Als sie später auf den Handtüchern gelegen hatten und Len- ny am Ufer des kleinen Sees aus Kieselsteinen Staudämme baute, war Reenie für einen Augenblick eingedöst.
Im Traum war sie bei Jake gewesen. Sie waren wieder im Sky & Sea, hatten getanzt. Die sanfte Musik verwob sich mit der warmen Luft um sie herum. Reenie konnte seine Wärme spüren. Seine Hände streichelten ihren Rücken in langsamen Kreisen und ihre Nervenzellen reagierten mit schmerzlicher Wucht. Ihr ganzer Körper sehnte sich nach seiner Berührung. Sie drängte sich näher an ihn. Als er seine Hände ein wenig tiefer wandern ließ und den Ansatz ihrer Brüste streifte, stöhnte sie leise seinen Namen.
Die Hände wurden plötzlich ganz still.
»Was hast du gesagt?«, fragte eine tiefe Stimme und Reenie schlug die Augen auf. Sie brauchte einen Moment, bevor ihr klar wurde, wo sie war. Als sie schließlich den Mut aufbrachte, sich umzudrehen, hatte Lucien sie mit kühlen Augen angesehen.
»Nichts«, hatte Reenie schnell erwidert und ihm die Flasche mit Sonnencreme aus der Hand genommen. Sie hatte den Verschluss zuschnappen lassen. »Danke fürs Eincremen.«

Reenies Eistee

Ihr braucht dazu:

1,5l Wasser
2 Beutel Schwarztee
Saft einer halben Zitrone
1 Handvoll Pfefferminzblätter (oder 1 Beutel Pfefferminztee)
Zucker oder Honig nach Geschmack

Und so funktionierts:

Wasser zum Kochen bringen und die Teebeutel und Pfefferminzblätter (oder -teebeutel) damit übergießen. 3 Minuten ziehen lassen und dann entfernen. Zitronensaft hinzufügen und nach Geschmack mit Honig oder etwas Zucker süßen. Dann kalt stellen. Für Eilige geht das natürlich auch mit Eiswürfeln „wink“-Emoticon.
Wer es etwas exotischer mag, kann auch einen Schuss Limetten- und/oder Ananassaft statt des Zitronensafts nehmen.

Besonders schön sieht es aus, wenn ihr den Eistee in einem Krug mit Eiswürfeln, Zitronen- oder Limettenscheiben und einem Pfefferminzzweig serviert. Und dann ab in den Liegestuhl und mit einem guten Buch der Hitze trotzen!

Foto: shutterstock/pilipphoto

Ohne Dich …

Die Vorstellung, dass er schon bald eine andere Frau küssen würde, traf mich mit bösartiger Wucht und die Welt um mich herum schwankte für einen Moment. Ich atmete tief ein, aber die Luft schien keinen Sauerstoff mehr zu enthalten. Er schnaubte wütend und schob dann seine Finger unter mein Kinn, zwang mich ihn anzusehen.

„Ohne dich bin ich gar nichts, Adele. Ohne dich gibt es keine Musik für mich.“

Küss mich zum letzten Mal, Teil 2 der „Küss mich“-Serie … bald als Geschenk für alle Newsletter-Empfänger! 🙂

Leseprobe FM1 … Küss mich im Sommerregen

Acht Jahre zuvor

Jake blickte auf das Bündel in seinen Armen und dann wieder in die finstere Nacht, die sich vor dem Fenster ausbreitete. Tränen rannen seine Wangen hinunter. Er machte sich nicht die Mühe, sie abzuwischen. Niemand würde seine Tränen sehen. Sie waren alleine hier.
»Ich bin dein Dad«, sagte er mit rauer Stimme zu dem Neugeborenen, das friedlich schlief. Heißer Schmerz spülte über ihn hinweg und sein Herz fühlte sich an, als würde es zerreißen.
Er atmete ein, und die Luft quälte sich mit einem kehligen Laut in seine Lunge. Das Baby bewegte sich und Jake wurde ganz still.
»Schlaf, Kleiner«, murmelte er. »Du musst mir ein bisschen helfen. Ich habe nämlich keine Ahnung von Babys.« Panik breitete sich in ihm aus. Er wollte weg von hier. Weg von diesem Ort, weg von dem, was vor ihm lag. Und gleichzeitig hätte ihn nichts in der Welt von dem Baby in seinem Arm trennen können. Sein Sohn war alles, was ihm geblieben war. Draußen auf dem Gang klapperten Schritte rhythmisch auf dem Linoleum-Boden. Er konzentrierte sich auf das Geräusch. Langsam wurde er ruhiger.
»Dein Name ist Charlie, Kleiner«, sagte er nach einer Weile. »Deine Mum hat ihn ausgesucht. Nach ihrem Großvater.« Das kleine Gesicht mit den runden Wangen verschwamm vor seinem Blick und er schluckte hart. »Sie hat dich geliebt, weißt du?«, flüsterte er. »Und ich habe ihr versprochen, gut auf dich aufzupassen. Ich werde nicht zulassen, dass dir jemand weh tut. Du musst dir keine Sorgen machen.«


Das Blitzlichtgewitter flammte draußen vor den Fenstern auf, als der schwere Royce langsam näher glitt. Nur noch vier Wagen vor ihnen, dann musste sie aussteigen. Reenie verknotete ihre Finger ineinander und blickte in die dunkle Glasscheibe neben ihr. Die Frau darin hatte ihre goldbraunen, lockigen Haare zu einer geschmackvollen Hochsteckfrisur aufgetürmt. Das Make-up war dezent, der Schmuck um ihren Hals teuer. Alles an ihr sah nach altem Geld aus.
Reenie seufzte und die Frau in der Glasscheibe tat es ihr nach. Mit angsterfüllten, braunen Augen sah ihr Spiegelbild sie an.
»Kannst du dich noch an deinen Text erinnern?«, fragte Lucien und zog eine Augenbraue in die Höhe.
»Ja«, murmelte sie und sah ihn aus den Augenwinkeln an. Er saß mit seiner üblichen nonchalanten Eleganz neben ihr. Das schwarze Haar fiel wie zufällig mit einem perfekten Schwung in seine Stirn. Der Maßanzug betonte seinen breiten Schultern, die feingliedrigen Hände hielten das Programm des heutigen Abends. Er sah gut aus, und er wusste es. Reenie unterdrückte den Wunsch, mit ihren Fingern seine Frisur zu durchwühlen. Das seidene Einstecktuch herauszureißen, mit ihrem Lippenstift ein paar Flecken auf dem blütenweißen Hemd zu hinterlassen. Seine grauen Augen beobachteten sie kühl.
»Sicher?« Nicht wie beim letzten Mal, hing wortlos in der Luft zwischen ihnen.
»Es ist eine Ehre für das Haus Demarchelier, die traditionsreiche Pariser Oper zu unterstützen. Wir freuen uns besonders auf die Premiere heute Abend. Unsere Familie ist seit jeher der Kunst und speziell der Oper eng verbunden«, leierte sie herunter.
Noch drei Autos.
»Ist das Kleid von Madame Inés?«
Reenie nickte und wünschte, er würde den Mund halten. Sie musste sich einfach nur konzentrieren. Aber wie sollte sie das, wenn er einfach nicht still sein wollte!
Es wird schon nicht so schlimm werden, diesmal schaffst du es …
Nur noch zwei Autos.
Sie zwang sich, ruhig zu atmen, und konzentrierte sich auf ihre Fingernägel. Chanel Nagellack, kunstvoll aufgetragen von der Nageldesignerin ihrer Schwiegermutter. Dezent natürlich. Nicht zu lange. Die Nägel leicht oval gefeilt. Perfekt abgestimmt auf die Garderobe.
Nur noch ein Auto.
Die grellen Lichtblitze erhellten das Wageninnere und Reenie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Tausend kleine, bösartige Funken tanzten über ihre Haut, und das Blut begann in ihren Ohren zu rauschen. Die Tür wurde aufgerissen und Lucien lächelte sein strahlendstes Lächeln, als er aus dem Wagen stieg.
»Lucien, hier herüber!« − »Monsieur Demarchelier, bitte sehen Sie hierher!« − »Nur ein Wort, Monsieur. Ihre Zusammenarbeit mit …«
Lucien lächelte die versammelten Reporter an und hielt Reenie galant die Hand hin, um ihr aus dem Wagen zu helfen.
Los geht’s. Knie zusammenhalten beim Aussteigen, Bauch rein, nicht zu sehr nach vorne beugen, lächeln. Und lächeln, lächeln, lächeln, betete sie im Geiste die Liste ihrer Schwiegermutter herunter.
Als sie sich erhob und in die Runde blickte, blendeten sie hunderte gleißender Blitzlichter.
»Catherine, bitte nur ein Foto!« − »Bitte sehen Sie zu mir, Madame!« − »Madame Demarchelier … Ein Foto mit Ihrem Mann vielleicht, Madame?«
Hitze breitete sich in Reenies Magen aus und flutete ihre Blutbahn. Sie lächelte angestrengt in die Runde und nickte den Reportern zu.
»Dein Lächeln wirkt aufgesetzt, meine Liebe«, würde ihre Schwiegermutter flöten. »Ich weiß wirklich nicht, warum dir das immer noch so schwer fällt, nach all der Zeit.«
Schwindel stieg in ihr auf, und sie schnappte nach Luft. Lucien zog sie in seine Arme und presste ihr einen Kuss auf die Wange, und sie spürte, wie sich die Reporter vielsagende Blicke zuwarfen.
Lucien wandte sich wieder der Presse zu. Die Lichtblitze und Gesichter verschwammen vor ihren Augen, bildeten einen verwirrenden Strudel, der sie mitzureißen drohte. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem.
Alles ist gut. Du kannst das. Nichts wird geschehen. Die Kinder sind in Sicherheit.
Lucien schoss ihr einen ungeduldigen Blick zu und zog sie an der Hand über den roten Teppich, hin zu einem wartenden Fernsehteam.
»Lucien, Sie haben dieses Jahr unglaublich viel Erfolg gehabt: Sie haben Ihren wichtigsten Konkurrenten aufgekauft und sind damit der größte Diamanthändler in Frankreich. Außerdem bringen Sie bald Ihre erste eigene Schmuck-Kollektion heraus. Was planen Sie als Nächstes?« Lucien lächelte die blonde Reporterin mit einer gekonnten Mischung aus Charme und Bescheidenheit an. »Nun, als Nächstes freue ich mich schon auf Weihnachten im Kreise der Familie. Und natürlich auf unseren alljährlichen Silvesterempfang.« Die blonde Reporterin klimperte mit ihren verlängerten Wimpern.
»Oh, ich denke, Millionen Frauen vor den Fernsehgeräten denken jetzt eines: Lucien Demarchelier … gutaussehend, erfolgreich, wohlhabend … und obendrein noch ein Familienmann.« Sie pausierte und lächelte mit kokett gesenkten Wimpern. »Und heute haben wir die seltene Gelegenheit die Frau zu fragen, die es wissen muss: Wie fühlt es sich an, mit ihm verheiratet zu sein?«, wandte sie sich plötzlich um. Reenie schrak vor dem Mikrofon zurück. Sie spürte, wie sich die Kamera auf sie fokussierte. Die Dunkelheit hinter der Linse schien mit aller Macht aus dem Glas zu drängen, schien ihre Finger nach ihr und ihren Kindern auszustrecken. Plötzlich war kein Sauerstoff mehr in der Luft und schwarze Punkte begannen, vor ihren Augen zu tanzen.
»Ich denke, meine Frau ist charmant genug, hier zu schweigen und die Welt nicht über meine zahlreichen Fehler aufzuklären, nicht wahr, Cherié?« Lucien küsste sie aufs Haar. »Sag was«, zischte er ihr ins Ohr und lächelte dann wieder die Reporterin an. Reenie nickte mechanisch und machte einen wackeligen Schritt in Richtung der Oper. Sie musste hier weg. Das Böse konnte wieder geschehen. Hier zu stehen, war wie eine Herausforderung an das Schicksal. Alles in ihr schrie danach, wegzulaufen, und sie zitterte vor Anstrengung, diesen Impuls zu unterdrücken.
»Aber Lucien, ich bin sicher, Ihre Frau möchte auch selbst etwas dazu sagen, ne c´est pas?« Die Reporterin lächelte süßlich.
Jeder Atemzug war zäh wie Honig, und sie schwankte. Die Punkte in ihrem Blickfeld wirbelten wie dichter, schwarzer Schnee umher und machten es ihr nahezu unmöglich, etwas zu sehen.
»Gut«, krächzte sie schließlich. »Es fühlt sich gut an.«
»Na, sehen Sie! Meine Frau ist wie immer sehr nachsichtig mit mir. Was wäre ich nur ohne sie.« Lucien lächelte strahlend, schob sich zwischen Reenie und die Reporterin und drängte seine Frau in Richtung Haupteingang.
Auf den Stufen drehte er sich noch einmal um und Reenie hatte keine Wahl, als seiner Bewegung zu folgen. Blitzlichter flackerten auf und Reenie zog mechanisch die Mundwinkel nach oben. Die Treppe fiel vor ihr ab, der rote Teppich breitete sich vor ihr aus wie ein Meer aus Blut. Und am Ufer stand die Meute der Reporter, die unbarmherzig auf sie zielten. Sie schlang die Arme um sich und zitterte. Sie musste hier weg, sonst würde es wieder geschehen.
Dann waren sie plötzlich im Haus und Lucien steuerte auf die Familienloge zu. Dort angekommen ließ er sie abrupt los. Reenie taumelte und stützte sich an der mit rotem Samt bezogenen Wand ab.
»Finden Sie heraus, wer die blonde Reporterin ist, und sehen Sie zu, dass sie gefeuert wird!«, sagte Lucien, und Reenie blickte auf. Albertine, Luciens Assistentin, nickte geschäftig.
»Und du.« Er drehte sich zu Reenie um und blickte sie wütend an. »Lieferst ihnen noch mehr Munition für die Gerüchte.«
»Es tut mir leid«, flüsterte Reenie.
»Das sagst du jedes Mal, Catherine.« Er schlug mit seiner Faust gegen die Wand. »Jedes einzelne verdammte Mal.« Reenie blickte zu Boden.
»Sag mir, wie ich dir helfen kann. Sag es mir!«, schnaubte Lucien und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich habe weiß Gott alles probiert, aber du musst es auch selbst wollen.«
Reenie fühlte sich zu matt, um etwas zu sagen. Sie wollte nach Hause und nach ihren Kindern sehen. Lou umarmen, Lennys Wange im Schlaf streicheln. Sich vergewissern, dass alles in Ordnung war. Dass es ihnen wirklich gut ging. Lenny war noch so klein … und auch wenn Lou inzwischen ein Teenager war, wollte Reenie sie vor dem Bösen da draußen beschützen.
Sie fischte mit zitternden Fingern ihr Handy aus der Tasche und begann, eine SMS an ihre Tochter zu tippen.
Lucien blickte sie müde an. »Es ist inzwischen fünfzehn Jahre her. Wir mussten alle darüber hinwegkommen. Das musst du auch.« Reenie drehte den Kopf zur Seite und blinzelte die Tränen weg. Sie hörte ihn schnauben und blickte auf. Er streckte ihr seinen Arm hin, und sie legte ihre Hand automatisch auf seine und ließ sich von ihm zu ihrem Platz führen. Als sie an Albertine vorbeigingen, konnte sie für eine Sekunde den verächtlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen.
Du mich auch, dachte sie.


»Das hier ist eine Katastrophe, meine Liebe.« Hortensia ließ die Zeitung sinken und blickte Reenie über den Rand ihrer zierlichen Lesebrille an. Reenie nickte ihrer Schwiegermutter zu und hob stumm die Arme. Madame Inés zupfte an dem dünnen Stoff des bodenlangen Kleides und runzelte die Stirn. »Lucien nimmt doch schon nahezu alle Termine ohne dich wahr, Catherine. Er braucht dich nur einige Male im Jahr, und nicht einmal das kannst du für deinen Ehemann tun.« Hortensia nahm die Brille ab, klappte sie zusammen und legte sie auf das zierliche Tischchen neben ihrem Sofa. Seine kunstvollen Einlegearbeiten formten das Wappen der Familie Demarchelier. Zu der sie gehörte, aber nie wirklich gehören würde. Die sie wieder einmal enttäuscht hatte.
»So kann es nicht weitergehen, ma chère.« Reenie blickte aus dem Fenster, während Madame Inés vorsichtig Stecknadeln aus dem Stoff an ihrer Taille entfernte.
»Du bist Luciens Frau, Catherine, und als solche hast du Pflichten ihm und der Firma gegenüber.« Reenie sah aus den Augenwinkeln, wie sich Hortensia und Madame Inés einen Blick zuwarfen. Normalerweise wäre sie wütend geworden, aber im Moment fühlte sie sich einfach nur leer.
»Dein Auftritt letzte Woche hat alles nur noch schlimmer gemacht. Es gab zuvor schon Gerüchte, aber nun haben die ersten Magazine gewagt, sie auch zu drucken.«
Reenie blickte auf. »Welche Gerüchte?«
Sie hatte heute in der Früh keine Zeit gehabt, die abonnierten Magazine zu lesen, bevor sie Lou in die Schule und Lenny in den Kindergarten gebracht hatte. Und danach war sie direkt hierher gefahren, zur Anprobe der Abendroben für Weihnachten und Silvester.
»Oh, bitte, Kind, sei doch nicht so naiv! Du zeigst dich fast nie in der Öffentlichkeit, machst keine Charity-Arbeit, gibst keine Interviews und benimmst dich eigenartig, wenn du mal bei einem Empfang zu sehen bist. Was sollen die Leute denken?«
Reenie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Bleierne Müdigkeit machte es ihr schwer, der Unterhaltung zu folgen. Sie wollte einfach nur nach Hause.
Hortensia drehte die Zeitung und hielt sie in ihre Richtung. »Drogenprobleme im Haus Demarchelier?«, schrie es in fetten Lettern von der Titelseite. Reenie spürte, wir ihr Blut mit einem kribbelnden Gefühl aus den Wangen wich.
Hortensia setzte ihre Brille umständlich wieder auf, räusperte sich und begann zu lesen:
»Schwankender Gang, aufgedunsenes Gesicht und Verwirrtheit: Alles Zeichen von Drogenmissbrauch, die nicht zum ersten Mal an Catherine Demarchelier (36) beobachtet werden konnten. ›Ja, es ist wahr‹, bestätigen enge Freunde der Familie gegenüber der Redaktion. ›Sie hat seit Längerem ein Drogenproblem. Die Familie will es unter Verschluss zu halten, auch um die Kinder zu schützen. Lucien versucht für sie da zu sein, aber sie lehnt jede Hilfe ab.‹ Die Ehe von Catherine und Lucien Demarchelier (39) scheint in einer schweren Krise zu stecken, wie leider nicht zum ersten Mal. Schon oft machte das Paar Schlagzeilen, zum ersten Mal wegen der überstürzten Heirat während Luciens Studium in Amerika. Dann, ein Jahr später, als eine grausame Entführung …« Hortensias Stimme brach ab. Sie räusperte sich und begann von Neuem.
»Seit langem reißen die Gerüchte nicht ab, dass die Ehe der beiden nur noch auf dem Papier besteht. Lucien Demarchelier, der als Familienmensch bekannt ist, kämpft einen aussichtslosen Kampf um die Liebe seiner Frau und für seine Kinder. Doch kann er den Kampf gegen die Drogensucht gewinnen? Und wie lange wird er noch die Kraft dafür haben?«
Tränen der Wut stiegen Reenie in die Augen, und sie blinzelte, bevor sie ihr über die Wangen rollen konnten. Drogen?
»Du weißt, dass das nicht stimmt, Hortensia«, flüsterte sie heiser, als ihre Schwiegermutter geendet hatte.
»Natürlich, ma chère. Aber leider glauben die Menschen, was in solchen Magazinen geschrieben wird. Und Skandale sind schlecht für die Firma.«
Reenie nickte. Skandale sind schlecht für die Firma. Ich bin schlecht für die Firma.
»Dass Lucien versucht, dich zu schonen, ist ein Fehler. Dass er fast immer alleine zu sehen ist, hat die Gerüchte nur noch mehr angestachelt. Wenn du mit diesem Problem fertig werden willst, musst du aufhören, davor wegzulaufen.« Hortensia machte eine wegwerfende Handbewegung.
Reenie lachte bitter auf. Aufhören wegzulaufen? Endlich damit fertig werden?
Madame Inés räusperte sich, und Hortensia warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Ich denke, dieses Kleid ist leider etwas zu … eng um den Bauch«, sagte Madame Inés und blickte zwischen Reenie und Hortensia hin und her. »Möglicherweise habe ich mich bei den Maßen geirrt, als ich sie vor ein paar Wochen genommen habe?«, schlug sie taktvoll vor.
Reenie verschränkte die Arme und stieg von dem Podest der Schneiderin herunter.
»Lass mich raten, Hortenisa: Diät, wieder einmal, oder?« Dann öffnete sie den seitlichen Reißverschluss und schälte sich aus dem Kleid. »Was immer ich auch tue, nie ist es genug. Meine Figur, meine Haare, mein Make-up, meine Nägel, mein Auftreten – nichts reicht jemals an die Standards des Hauses Demarchelier heran.« Sie zog ihre gemütlichen Jeans über ihre mangelhaften Hüften und zerrte sich dann das Shirt über den Kopf.
»Ich habe genug, Hortensia. Ich kann nicht mehr. In mir ist nichts mehr übrig, kein Fünkchen Energie, nichts mehr, das ich noch mobilisieren könnte. Ich fühle mich taub. Ausgebrannt.« Ihre Stimme zitterte und ihre Lippen waren mit einem Mal salzig von ihren Tränen. Sie war wütend auf sich selbst. Seit wann war sie so eine Heulsuse?
»Wenn Lucien es wünscht, werde ich zu diesem Empfang gehen. Und zum nächsten. Und zum übernächsten. Aber ich werde keine Diät mehr machen. Also müsst ihr das Kleid wohl ändern. Oder ich gehe einfach in Jogginghosen hin. Wir können ja sagen, dass ich gerade aus der Reha komme.«
Madame Inés machte einen Schritt zurück, als hätte Reenie ihr eine schallende Ohrfeige versetzt. Vermutlich gab es für sie nichts Grauenhafteres als Jogginghosen.
»Und jetzt gehe ich nach Hause und esse eine große Portion Schokoladeneis. Mit Schokosauce.« Ihr alten, verknöcherten Spinatwachteln.
Sie verließ das Zimmer, ohne sich umzusehen, und ging langsam die marmornen Stufen hinunter. Ihre Energie verpuffte in der kalten Weite des herrschaftlichen Stiegenhauses. Higgins, der englische Butler ihrer Schwiegermutter, tauchte lautlos neben ihr auf und warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Soll ich Ihnen ein Taxi rufen, Madame?«
»Nein, danke. Ich werde laufen.«
»Ich denke wirklich, dass ein Taxi besser wäre angesichts Ihrer …« Er brach ab.
»… unmöglichen Erscheinung?«, ergänzte Reenie und blickte an sich herab. »Sie haben recht, Higgins, natürlich, das gäbe wieder nur Schlagzeilen. ›Catherine Demarchelier verlässt das Haus ihrer Schwiegermutter in Tränen. Hat sie ein Ultimatum bekommen? Muss sie in Reha, wenn sie die Kinder nicht verlieren will …‹« Reenie pausierte. »So in etwa würde es lauten, nicht wahr?«
Higgins blickte sie mit unleserlicher Miene an und sagte nichts.
»Reenie?«
Sie drehte sich um und musste lächelte. Die einzige Person der Familie, die sie mit ihrem Spitznamen anredete, lehnte an einer Säule am Fuß der geschwungenen Treppe und grinste sie verschmitzt an. Seine dunklen Haare fielen in wilden Wellen auf seinen Kragen, die braunen Augen blitzten, und ein Dreitagebart schattierte sein Kinn. Das Designer-Hemd war verknittert, der oberste Knopf fehlte, und die Jeans waren wie üblich mit Farbspritzern übersät.
»Kann ich dich vielleicht irgendwohin mitnehmen, Reenie? Ich wollte zufällig gerade gehen.«
»Heim, Frédéric«, sagte sie zu Luciens jüngerem Bruder. »Du kannst mich nach Hause bringen.«


Wer zum alljährlichen Silvesterempfang ins Haus der Demarcheliers eingeladen wurde, hatte es geschafft. Die Crème de la Crème von Paris versammelte sich jedes Jahr bei ihnen und tanzte gemeinsam in den Morgen. Es war das rauschendste Fest des Jahres … und Reenie hasste es. Sie hasste Silvester, hasste den ganzen Abend.
Der Gedanke an all die fremden Menschen, die durch ihr Haus wanderten, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Es waren Luciens Freunde, seine Geschäftspartner und ausgewählte Reporter, die dann in den angesehensten Zeitungen und Magazinen des Landes über die »intime Feier« berichteten. Reenie runzelte die Stirn. Wenn er nur verstehen könnte, wie sehr ich das hasse. Der Gedanke, dass einer dieser Fremden in ihrem Haus herumschnüffelte, Türen öffnete, die persönlichen Gegenstände ihrer Kinder berührte … unerbittlich Informationen zusammentrug, langsam und Stück für Stück, bis …
Das surrende Geräusch der Aufzugtüren schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Seine Schritte klangen auf dem polierten Steinboden der Halle und näherten sich rasch. Sie ließ ihr Buch sinken und blickte zu Tür. Lucien war wie immer penibel gekleidet, jede einzelne pechschwarze Strähne seiner Frisur an ihrem Platz. Seine Kleidung und seine Haltung erzählten von seinem Erfolg. Er hatte die Aura eines Mannes, der sich von Problemen nicht aufhalten ließ, der seine Pläne stets trotz aller Widerstände durchsetzte.
Was für ein Unterschied zu dem Mann, in den sie sich einst verliebt hatte – Lucien, der Student, der für jeden Unsinn zu haben gewesen war, der mit ihr beim Picknick billigen Sekt aus Plastikbechern trank und sie dann auf einer weichen Decke im Feld liebte, während rund um sie die Halme nickten und die Sonne hoch am Himmel stand. Der sämtliche ehrwürdigen Statuen am Campus mit Perücken und Plastiknasen verziert hatte, der Professorinnen mit seinem Charme dazu bringen konnte, ihm Fehlstunden nachzusehen.
Wo bist du?, dachte sie. Sie vermisste diesen Lucien plötzlich mit schmerzhafter Intensität. Mit ihm hätte sie alles besprechen können. Er hätte sie verstanden.
»Hallo, Lucien. Wie war dein Tag?«, fragte sie schließlich.
»Gut. Deiner?«
Sie hörte seinen bitteren Tonfall und sank tiefer in die dick gepolsterte Rückenlehne der wuchtigen Couch. Er hatte die Magazine natürlich auch gelesen. Wahrscheinlich hatte sie Albertine bereits vor seiner Ankunft im Büro auf seinem Schreibtisch ausgebreitet.
»Ich habe heute mit Guillaume die Arbeiten im Frühjahr geplant. Wir wollen den Vorgarten neu gestalten.« Er schnaubte und schenkte sich einen Whiskey ein.
»Dein Freund, der alte Gärtner?«, fragte er, und der Sarkasmus in seiner Stimme war schneidend.
Sie antwortete nicht, sondern drehte den Stiel ihres Weinglases zwischen ihren Fingern hin und her.
»Wo sind die Kinder?«
»Lou hat Geigenstunde und Lenny übernachtet heute bei deiner Mutter.«
Er machte ein paar Schritte auf die großen Bogenfenster zu, blieb neben den schweren Vorhängen stehen und blickte hinaus. Reenie nippte an ihrem Weinglas und schloss die Augen. Jetzt oder nie, dachte sie, besser wird seine Stimmung nicht mehr. Sie stellte das Glas ab und beobachtete für einen Moment die Reflexionen des Lichts in der tiefroten Flüssigkeit.
»Was hältst du davon, wenn die Kinder und ich dieses Jahr über Silvester verreisen? Ein nettes Hotel, Skifahren … oder wir besuchen Jill?«
Lucien drehte sich langsam um und sah sie ungläubig an.
»Mach dich nicht lächerlich, Catherine! Unsere Gäste erwarten, uns beide zu sehen, so wie jedes Jahr. Wie stellst du dir das vor?«
»Ich bin sicher, dass deine Gäste mich rasend vermissen würden«, sagte sie trocken.
Aber sie redete Blödsinn und sie wusste es. Auch wenn Reenie nie ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hatte, wäre ihre Abwesenheit ein Skandal. Sie nahm noch einen Schluck Rotwein und blickte zu Lucien hinüber.
Er hatte die Lippen zusammengepresst. Sie wandte den Blick ab und begann, die Magazine auf dem niedrigen Tisch vor ihr ordentlich zu stapeln. Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt dafür, mit dieser Unterhaltung begonnen zu haben.
Er durchquerte den Raum mit ein paar schnellen Schritten und ließ sich mit einer einzigen, flüssigen Bewegung neben ihr auf die Couch sinken.
»Ich verstehe dich nicht, Catherine. Was hast du erwartet?«
Sie spürte, wie ihre Wangen feucht wurden. Warum, verdammt noch mal, heulte sie in letzter Zeit bei jeder Kleinigkeit? Sie wollte nicht, dass er sie so sah, und blinzelte krampfhaft in Richtung Fenster. Jetzt reiß dich zusammen!
»Sieh mich wenigstens an, verdammt noch mal!« Lucien ergriff ihr Kinn und zwang sanft ihren Kopf herum. Von Nahem bemerkte sie die dunklen Ringe unter seinen Augen. Als er weitersprach, war seine Stimme tonlos.
»Wir geben diesen Empfang so wie jedes Jahr, Catherine. Und du wirst die Gastgeberin sein. Soweit du das kannst. Danach werden wir eine Lösung für diese Situation finden.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »So kann es nicht weitergehen. Keiner von uns beiden hat das hier verdient.«
In der Stille nach seinen Worten hing die Kälte zwischen ihnen mit dunkler Körperlichkeit.
Er ließ sie sanft los und stand auf. Sie vermisste seine Berührung und hätte beinahe nach seiner Hand gegriffen. Beinahe.


Reenie stand auf der Terrasse des weitläufigen Landhauses, ihren eleganten Wintermantel über dem bodenlangen Abendkleid, das Madame Inés wie immer perfekt entworfen hatte.
Durch die riesigen Fenster sah sie die enorme Tanne, die von Hunderten kleiner Kerzen hell erleuchtet war. Die antiken Möbel ringsum glänzten sanft in ihrem Schein.
Hortensia hatte sich auf einem der Empire-Sofas niedergelassen und betrachtete Lenny, wie er mit seiner Eisenbahn spielte. Sein blondes Haar, das normalerweise in alle Richtungen stand, war heute mit Gel gebändigt. Für den neuen Anzug hatte er keinen Gedanken übrig, er rutschte gerade auf allen Vieren andächtig neben den Schienen her. Lou lehnte gemütlich neben ihrer Großmutter und tippte konzentriert auf ihrem neuen Handy herum. Ihre goldbraunen Locken waren heute dem Glätteisen der Friseurin zum Opfer gefallen. In ihrem eleganten Kleid und mit dem dezenten Make-up sah sie beinahe erwachsen aus. Und ein wenig fremd.
Reenies fröstelte, und ihr Blick wanderte weiter. Sie fand Lucien am anderen Ende des Raumes. Er lehnte an der mit dunkelgrünem Stoff tapezierten Wand neben der antiken Zimmerbar und lachte über etwas, was sein Bruder Frédéric ihm gerade erzählt hatte.
Higgins eilte mit einem Tablett voller zierlicher Mokka-Tässchen und Porzellanteller zum Speisezimmer, und der eigens engagierte Klavierspieler machte Frédérics diesjähriger Eroberung schöne Augen. Reenie musste lächeln. So wie es aussah, waren auch die Stunden dieser »Belle du Jour« gezählt. Sie würden sie wohl nicht wiedersehen. Es war also nicht so schlimm, dass sie den Namen der schwarzhaarigen Schönheit bereits wieder vergessen hatte.
Sie drehte der Szene den Rücken zu und dachte an Weihnachten in ihrem Elternhaus. Der kleine Baum, die Weihnachtsgeschichte, die ihre Oma vorlas, die Geschenke … Sie dachte an ihre Eltern und lächelte. Sie hätten sicher nicht geglaubt, dass ihre Tochter einmal zu den oberen Zehntausend von Paris zählen würde.
Reenie kuschelte sich tiefer in ihren Mantel und blickte auf den Park, der sich in der Dunkelheit vor ihr erstreckte. Die Sterne glänzten am Himmel und am Horizont funkelten die Millionen Lichter von Paris.
Ein leises Klicken riss sie aus ihren Gedanken und sie blickte auf. Frédéric kramte in seinem Smoking nach einem zerdrückten Päckchen Zigaretten, steckte sich eine an und atmete auf.
»Ahhh … Darauf freue ich mich schon die ganze Zeit.«
»Hat Lucien wie jedes Jahr versucht, dich davon zu überzeugen, endlich diese sinnlose Malerei aufzugeben und in die Firma einzusteigen?« Reenie lächelte.
Frédéric grinste und antwortete dann in gespielt nasalem Tonfall: »Eine ehrwürdige Tradition, die ich um nichts in der Welt missen möchte, liebste Schwägerin.«
Reenie gluckste und er paffte eine Weile zufrieden vor sich hin.
»Der Blick ist immer noch spektakulär, auch wenn man ihn schon seit Jahren kennt«, murmelte er dann, mehr zu sich selbst, und lehnte sich neben Reenie an die Brüstung.
»Was für eine Verschwendung, dass das Haus hier die meiste Zeit im Jahr leer steht, wenn Hortensia in Paris wohnt«, sagte Reenie.
»Nun ja, es ist ein Landsitz«, meinte Frédéric. »Man braucht ihn, um sich von den Strapazen des Stadtlebens zu erholen. Und dann kehrt man ordentlich gelangweilt und reumütig wieder in die Stadt zurück.«
Reenie lachte. »Hast du etwas Neues?«
»Zwei großformatige Arbeiten. Sie sind schon bei meinem Galeristen. Er meint, dass er sie im Nu verkauft haben wird.«
»Das wundert mich nicht. Deine Arbeiten sind großartig. Wenn Lucien es erlauben würde, hätte ich gerne mehr davon in unserem Haus.«
Er lächelte sie an.
»Die Arbeiten passen vielleicht nicht ganz zum Stil, in seinen Augen. Wie nennt er sie immer so schön … eine grauenhafte Schmiererei?«
Reenie schüttelte den Kopf. »Nimm dir das nicht zu Herzen, Frédéric. Lucien kann mit moderner Malerei einfach nichts anfangen.«
»Tja, seine Familie kann man sich nicht aussuchen, n´est ce pas? Man wird hineingeboren, egal, ob man dort glücklich werden kann oder nicht.« Es gelang ihm nicht ganz, die Bitterkeit aus seiner Stimme fernzuhalten.
Als Reenie nichts sagte, blickte er sie an.
»Das war unsensibel, ich bin ein Idiot. Wie geht es dir, Reenie?«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »So wie immer. Ich versuche, den Erwartungen deiner Mutter gerecht zu werden. Und ich versuche, den Kindern so viel Normalität wie möglich zu bieten.« Sie fixierte mit ihren Augen einen imaginären Punkt in dem dunklen Park vor ihnen.
»Auf Dauer kann niemand gegen seine Natur leben«, sagte er, und drückte ihre Hand.
»Ich habe keine andere Wahl. Lucien wird die Firma nicht aufgeben, und ich kann nicht darüber hinwegkommen, dass …« Sie brach ab und presste die Lippen aufeinander.
»Und er versteht das nicht. In seiner Welt ist es vorbei, wenn es vorbei ist.« Frédérics Stimme klang warm in ihren Ohren.
»Ja. Er kann nicht verstehen, dass es für mich jedes Mal wieder aufs Neue beginnt – wie sehr die Panik in mir hochsteigt, wenn jemand eine Kamera in mein Gesicht hält.« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Ich bemühe mich, aber es klappt nicht. Und er ist enttäuscht von mir, jedes Mal aufs Neue. Ich sehe es in seinen Augen.«
»Du hast eine grauenvolle Erfahrung machen müssen, Reenie. Niemand kann von dir verlangen, dass du das einfach so vergisst. Keine Mutter könnte das! Das ist nichts, wofür du dich schämen musst.«
»Da solltest du Lucien hören.« Sie lachte trocken auf.
»Niemand kann auf Dauer gegen seine Natur leben«, wiederholte Frédéric. »Ich könnte nicht ohne meine Malerei leben. Ich wäre in der Firma eine Fehlbesetzung. Zahlen und Betriebswirtschaft und Jahrespläne … Das alles ist nichts für mich. Lucien wird irgendwann einsehen müssen, dass nicht alle Menschen so sind wie er.« Er blickte sie unverwandt an. »Es ist falsch, dich in ein Leben zu sperren, das dich kaputtmacht.«
Sie lächelte Frédéric schief an und er zog sie zu sich. Sie atmete tief ein und ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken. Es war schön, für einen Moment nicht alleine zu sein.
»Störe ich etwa?«, fragte eine eisige Stimme hinter ihnen. Reenie machte einen hastigen Schritt zurück und blickte zu Lucien, der gerade auf den Balkon getreten war.
»Nein, Chérie. Wir haben uns nur unterhalten«, sagte sie und hasste sich dafür, wie schuldbewusst ihre Stimme klang.
»Das habe ich gesehen.« Er durchbohrte beide mit einem dunklen Blick und schwieg für einen Moment. »Maman lässt euch bitten, hineinzukommen. Der Kaffee ist serviert.«


Am Silvestermorgen blickte sich Reenie schlaftrunken in ihrer Küche um und drehte gedankenverloren ihre Locken am Hinterkopf zu einem Knoten. Wie jedes Jahr sah es rundherum aus, als hätte eine Horde verhaltensauffälliger Dreijähriger beim Kochen geholfen. Das Essen gestern Abend war gut angekommen. Zumindest bei den Männern, die Mesdames haben sich wie immer damit begnügt, das Essen von einer Seite des Tellers auf die andere zu schieben. Reenie schüttelte den Kopf. Was für eine Verschwendung.
Sie belud die Körbe des Geschirrspülers und schaltete ihn für die erste von vielen Runden ein, als sie in den Augenwinkeln eine Bewegung sah. Sie drehte sich um und fand Lucien vor sich im Türrahmen stehen.
»Guten Morgen. Es ist gut gelaufen gestern, oder? Ich denke, es waren alle zufrieden«, sagte sie und lächelte ihn an.
Er nickte und blickte zur Seite. »Warum lässt du das nicht von dem Mädchen erledigen?«
»Ach, es bleibt noch genug für sie zu tun.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und ich dachte, ich fange einfach einmal an.«
Er lehnte sich gegen die Anrichte und nickte zerstreut.
»Ich denke, die Kinder und ich werden wie jedes Jahr einige Tage lang Reste essen.« Sie blickte ihn an und versuchte, den merkwürdigen Ausdruck auf seinem Gesicht zu deuten. »Lucien?«, fragte sie leise, während ein Kribbeln ihre Wirbelsäule hochkletterte.
»Wir müssen reden, Catherine.«
»Ist etwas mit den Kindern?« Reenie spürte, wie ihr Hals eng wurde.
Er runzelte die Stirn. »Ich will, dass du mir jetzt genau zuhörst. Ich habe nicht vor, diese Unterhaltung unnötig in die Länge zu ziehen.«
Sie nickte.
»Diese ganze Situation hier ist seit langem untragbar für uns beide. Du hasst das Leben hier und die Verpflichtungen, die es mit sich bringt.«
Sie versuchte nicht einmal zu widersprechen. Sie wussten beide, dass es so war.
»Aber hier ist mein Leben, Catherine. Generationen von Demarcheliers haben die Firma aufgebaut, und ich werde nicht alles hinschmeißen. Dieses Leben bringt Verpflichtungen mit sich, und ich brauche jemanden an meiner Seite, der das versteht. Der mir hilft, die Verantwortung zu tragen.«
Wovon spricht er hier gerade? Reenie kniff die Augen zusammen.
»Ich war naiv zu glauben, dass du irgendwann darüber hinwegkommen würdest. Ich hätte diese Entscheidung schon vor Jahren treffen sollen. Es tut mir leid«, fuhr er fort.
»Welche Entscheidung, Lucien?« Ihre Stimme klang seltsam dumpf in ihren Ohren.
»In zehn Minuten kommt der Wagen und fährt mich zum Flughafen. Ich fliege nach Südafrika, um einen wichtigen Geschäftspartner zu besuchen und unser Projekt dort zu überwachen. Ich werde für sechs Wochen fort sein.«
»Aber was ist mit den Kindern? Sie können sich nicht von dir verabschieden. Du hättest es ihnen gestern Abend schon sagen müssen. Lenny wird todunglücklich sein.«
»Léonard wird es schon schaffen«, sagte Lucien. »Du solltest ihn nicht verzärteln, er muss lernen, dass sich nur die Besten durchsetzen.«
Reenie verschränkte die Arme.
»Ich komme nicht zu euch zurück, Catherine.«
»Was?« Reenie starrte ihn an. Etwas Kaltes breitete sich langsam in ihrer Magengrube aus.
»Was ist mit den Kindern?«, flüsterte sie heiser.
»Ich denke, es wird vernünftiger sein, wenn sie bei dir wohnen. Du weißt selbst am besten, wie beschränkt meine Freizeit ist. Ich würde sie gerne an den Wochenenden und in den Ferien sehen. Wir werden eine Lösung finden.«
Reenie fühlte sich seltsam leicht, wie in Watte gepackt. Sie tastete blindlings nach dem nächsten Sessel und sank darauf. Er verlässt mich. Ich darf die Kinder behalten. Die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten im Kreis herum, prallten gegeneinander und ließen nichts als einen wirren Buchstabenhaufen zurück. Das kalte Geräusch klickender Absätze auf dem Fußboden schreckte sie auf.
»Albertine.« Ihr Mann schien nicht erfreut zu sein, seine Sekretärin in der Küche zu sehen.
»Ich wollte nur sehen, wie es dir geht.« Sie lächelte ihn an.
»Ich komme gleich.«
»Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ich warte draußen auf dich.«
Seit wann sind die eigentlich per du?, dachte Reenie taub, als sie Albertines wohlgeformten Hintern beim Rückzug beobachtete. Als sich die Tür leise schloss, schüttelte sie langsam den Kopf.
»Ach so ist das«, sagte sie mit einer Stimme, die durch Watte zu kommen schien.
»Albertine hat nichts damit zu tun«, sagte er und wich ihrem Blick aus.
Reenie schloss die Augen. Die Sekretärin. Natürlich. Und wer hatte nichts davon bemerkt? Übelkeit kletterte ihre Speiseröhre hinauf und sie schluckte. Sie musste ein Glas Wasser trinken, aber ihre Knie waren zu weich, um aufzustehen.
»Hast du schon eine Idee, wo du wohnen wirst? Ich nehme an, dass du nicht in diesem Haus wohnen möchtest?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr.
»Ich denke, dass eine gemütliche Wohnung in Paris genau das richtige für euch sein wird. Möglicherweise in der Nähe meiner Mutter.«
Sie starrte ihn ungläubig an. Nur über meine Leiche! Ich bin mir sicher, Hortensia kann die Scheidung gar nicht schnell genug gehen. Auf Ratschläge von ihr kann ich in Zukunft verzichten.
»Es wäre gut, wenn du den Umzug bald organisieren könntest. Denkst du, dass ein Monat reichen wird?«
»Wovon sollen wir leben, Lucien? Wie stellst du dir das vor? Ich …« Reenie brach ab. Was sollte sie auch sagen? Ich habe nie gearbeitet, weil es  furchtbar bourgeois ist, wenn die Ehefrau arbeitet. Ich habe keinen Beruf, keine Erfahrung, kein abgeschlossenes Studium. Was soll aus uns werden?
»Hältst du mich für ein Monster? Ich habe veranlasst, dass dir ein Konto für die erste Zeit eingerichtet wird. Danach werden wir eine Regelung für den Unterhalt finden.«
Er hatte ihr ein Konto eingerichtet. Sie musste in einem Monat ausziehen. Er würde Unterhalt bezahlen und die Kinder an den Wochenenden sehen. Wie praktisch. Wie vorausschauend. Wie kalt. Wie konnte er ihr gemeinsames Leben, ihre Familie so nüchtern betrachten?
»Liebst du mich noch, Lucien?«, fragte sie leise.
Er zögerte, dann ging er. In der Tür blieb er kurz stehen, drehte sich um und sah an ihr vorbei zum Fenster hinaus.
»Liebe war nie unser Problem, Catherine.« Seine Stimme klang heiser.
Damit verließ er ihr Leben, ohne sie noch einmal anzusehen.


Jill fühlte sich, als hätte sie erst vor Minuten die Augen geschlossen, als das schrille Piepsen des Handys sie aus dem Schlaf riss. Sie murmelte ein paar Unfreundlichkeiten und tastete auf dem Nachttisch nach dem elektronischen Quälgeist.
»Hallo?«, knurrte sie ins Telefon.
»Jill? Ich bin’s.«
»Reenie?« Jill rappelte sich auf und warf einen Blick auf den Radiowecker. 02:25 blinzelte ihr in roter Leuchtschrift entgegen. Kein Wunder, immerhin lebte ihre beste Freundin ja auf der anderen Seite des Atlantik.
»Ist etwas passiert?«
»Lucien will die Scheidung.«
»Was?« Jill war mit einem Schlag hellwach. Sie knipste die kleine Lampe auf ihrem Nachttisch an.
»Er hat es mir gerade eben gesagt.«
»Jetzt? Was ist passiert?«
»Er will, dass ich in sechs Wochen ausgezogen bin, Jill.«
Jill schwieg. In sechs Wochen? Da hat es wohl jemand eilig, seine neue Freundin einzuquartieren.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich so … taub«, fuhr Reenie fort. »Ich bin mir nicht sicher, ob das hier nicht ein Traum ist, Jill. Ist es das? Wenn ich heute Abend schlafen gehe, wache ich dann morgen in der Früh auf und alles ist wie immer?«
Jill hörte die seltsame Apathie in der Stimme ihrer besten Freundin. Vermutlich steht sie unter Schock. Sie hätte Reenie gerne umarmt.
Sie schüttelte den Kopf. Für Gefühlschaos blieb später noch genug Zeit, jetzt brauchten sie einen Plan. Und da gab es eigentlich nur einen: Reenie und die Kinder mussten nach Finley Meadows kommen.
»Ich sag dir was – du packst das Notwendigste für euch, schnappst dir die Kinder und kommst her. Ich buche eure Tickets und lasse sie am Flughafen hinterlegen. Und wenn ihr hier seid, dann überlegen wir, wie es weitergehen soll. Wie hört sich das an?«
Reenie antwortete nicht gleich.
»Aber wo werden wir wohnen? In deiner Wohnung ist kein Platz, vor allem, seit deine Mutter bei dir eingezogen ist. Und was ist mit Lou? Sie muss in ein paar Tagen zurück in die Schule.«
Jills Gehirn arbeitete fieberhaft.
»Und was ist mit unseren restlichen Sachen? Ich glaube nicht, dass ich es schaffe, dieses Haus noch einmal zu betreten, wenn ich einmal gegangen bin.«
Jill schwieg. Das waren viele gute Fragen und sie würden Antworten finden müssen. Wenn auch nicht für alle auf einmal, mitten in der Nacht. Sie rieb sich die Augen.
»Was eure Wohnung angeht, hab ich schon so eine Idee. Und wegen Lous Schulplatz erkundige ich mich. Mach dir keine Sorgen, Reenie. Du packst einfach eure Sachen und kommst her. Denkst du, du kannst das?«
»Ja. Ich denke schon.« Reenies Stimme klang matt durchs Telefon.
»Du schaffst das, Reenie. Ich hab dich lieb.«
»Oh, ich höre Lenny. Ich muss jetzt Frühstück für die Kinder machen.«
»Wir hören uns dann später, in Ordnung? Ruf mich an, wenn du die Kinder versorgt hast, dann besprechen wir alles.«
»Ok.«
Ein leises Klicken, und die Verbindung war getrennt. Jill drehte das Telefon geistesabwesend in ihren Händen hin und her. Die Lampe zeichnete einen Kreis aus warmem Licht auf die Bettdecke. Sie schloss probeweise die Augen und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Aber wie erwartet wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf herum und sie wusste, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war.
Warum hatte Lucien gerade jetzt beschlossen, die Scheidung einzureichen? Sicher hatte er Reenie betrogen! Jill spürte, wie heiße Wut in ihrem Bauch aufflammte. Nach all den Jahren, in denen Reenie an seiner Seite unglücklich gewesen war! Der Typ hatte wirklich Nerven.
»Ist nicht zu ändern«, murmelte sie und schlug die Bettdecke zurück. Dann tappte sie barfuß über den kalten Boden in Richtung Küche, um sich Tee zu machen. Sie hatte noch eine Menge zu organisieren, und wenn sie nicht schlafen konnte, dann würde sie eben gleich damit anfangen.
Unter der Küchentür hindurch schimmerte Licht ins dunkle Vorzimmer und klassische Musik perlte durch die Luft. Jill seufzte und öffnete die Tür.
»Kannst du nicht schlafen, Mum?«, fragte sie die schlanke, weißhaarige Frau, die über den Küchentisch gebeugt in einem dicken Kochbuch las.
»Wie üblich, mein Schatz.« Adele blickte auf und lächelte ihre Tochter an. Dann runzelte sie die Stirn und der Blick aus ihren kornblumenblauen Augen wurde besorgt. »Aber warum bist du munter? Hattest du einen Albtraum?«
»Ich erzähle dir gleich alles, aber zuerst brauche ich Tee. Möchtest du auch eine Tasse?«
Adele nickte lächelnd, und Jill war zum ersten Mal froh, ihre Mutter mitten in der Nacht munter angetroffen zu haben. Sie konnte Hilfe gut gebrauchen.


Reenie ließ den Blick über das Chaos schweifen und beschloss, dass es Zeit für eine Pause war. Sie streckte sich, und ihr Rücken protestierte mit einem knirschenden Geräusch. Auf müden Füßen wanderte sie in die Küche, um sich einen Café crème zu genehmigen.
Einige Minuten später saß sie auf einem der eleganten schwarzen Barhocker und nahm einen kleinen Schluck aus der filigranen Kaffeetasse. Sie schloss die Augen. Das komplexe Aroma der Spezialröstung legte sich samtig über ihren Gaumen und sie lächelte. Diese Art von Kaffee würde sie vermissen. Sie öffnete die Augen und blickte umher.
Auf der Kochinsel in der Mitte der glänzenden Küche stapelten sich Dokumente, To-Do-Listen, eselsohrige Angebote von Speditionen, Quittungen und noch mehr To-Do-Listen. Waghalsig aufgetürmte Kartons blockierten ihre Sicht.
Montagmorgen würde die Spedition alle Kisten verladen und sie würden sich auf den langen Weg via Containerschiff über den Atlantik machen. Doch Montagmorgen würden sie und die Kinder bereits in Finley Meadows sein. Bilder von der kleinen Stadt tauchten vor ihrem inneren Auge auf und sie horchte in sich hinein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie bald dort leben würde. Bisher war es einfach ein großartiger Ort gewesen, um Ferien bei ihrer besten Freundin zu machen.
Sie wusste, dass sie hätte traurig sein müssen. Oder wütend. Aber sie fühlte nichts. Da war nur eine gähnende Leere. Diese Dunkelheit hatte alles aufgesogen, hatte sich in ihr breitgemacht und sie ausgefüllt.
Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken, und Reenie glitt vom Hocker. Sie schnappte sich den Hörer der Gegensprechanlage.
»Hallo?«
»Hallo. Hier ist Albertine.«
»Ich brauche keine Hilfe, danke. Ich denke, das haben wir schon am Telefon besprochen, Albertine.« Reenie versuchte, ihre Stimme möglichst herablassend und autoritär klingen zu lassen. Die Geliebte ihres Mannes fehlte ihr gerade noch!
»Ich bin nicht hier, um zu helfen, Catherine«, kam die zuckersüße Antwort durch den Lautsprecher. »Ich bin hier, um mit meiner Designerin die Änderungen im Haus zu besprechen.«
Reenie taumelte zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, und ließ den Hörer fallen.
»Catherine?«, quäkte Albertines Stimme aus dem Hörer, der am Kabel hin und her baumelte. Kurz darauf drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und die Haustür öffnete sich. Albertine stöckelte durch die Tür und warf ihren Pelzmantel achtlos auf das kleine Tischchen in der Halle. Hinter ihr kam eine junge, blonde Frau herein, die Arme voller Stoffmuster.
»Das hier«, Albertine gestikulierte, »werden wir wohl komplett neu gestalten müssen.« Sie warf der jungen Frau einen fragenden Blick zu. »Ich dachte an Trompe-l’œil-Malerei, die würde ganz hervorragend mit dem Marmor harmonieren, denken Sie nicht auch?« Albertine deutete mit einer dramatischen Geste auf die Wand gegenüber der Eingangstür. »Vielleicht eine griechische Landschaft?« Sie legte ihren Finger unters Kinn und betrachtete nachdenklich die Wand.
»Was willst du hier?« Reenie unterdrückte mühsam die blubbernde Wut in ihrem Bauch und machte einen Schritt vorwärts. Und noch einen.
»Oh, Catherine. Es stört dich doch nicht, dass ich meinen Schlüssel benutzt habe? Lucien hat ihn mir gegeben.«
»Ah.« Reenies Hals war wie ausgetrocknet und sie spürte, wie flammendheißes Blut in ihre Wangen stieg. Wie konnte Lucien sie so demütigen?
»Und ich habe noch tausend Dinge zu erledigen, bis unsere Verlobung bekanntgegeben wird, da dachte ich, es stört dich bestimmt nicht, wenn ich schon einmal vorbeikomme.«
Reenie starrte die beiden einige Sekunden lang an. Albertines Lächeln hing triumphierend in ihrem Gesicht, und die junge Designerin blickte betreten zur Seite.
In Reenies Kopf wirbelten die Beleidigungen durcheinander und sie hatte das Gefühl, gleich zu platzen. Sie knirschte mit den Zähnen, drehte sich auf dem Absatz um und ließ die beiden einfach stehen. Diese blöde Kuh war es nicht wert, und sie würde ihr keine Munition liefern.
Wieder in der Küche, versuchte sich Reenie auf ihre Listen zu konzentrieren, als Lou durch die Tür gepoltert kam.
»Mum?«
»Hallo, mein Schatz.« Reenie blickte auf und lächelte müde. »Wo ist Lenny?«
»Der kommt gleich. Er hat in Großmutters Wagen eine Murmel verloren und Laurence hilft ihm suchen.« Sie grinste. »Ich denke, Großmutters Angestellte werden froh sein, wenn wir endlich abgereist sind. Du hättest sehen sollen, was Lenny heute beim Frühstück mit dem Nutella angestellt hat. Higgins wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.«
Reenie nickte. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie der unterkühlte Chauffeur ihrer Schwiegermutter es hasste, eine kleine Glasmurmel in dem schweren Mercedes zu suchen. Normalerweise freute sie sich diebisch, wenn ihr Nachwuchs etwas Schwung in Hortensias wohlgepflegten Haushalt brachte, aber Albertines überhebliches Grinsen ließ sich einfach nicht aus ihrem Kopf vertreiben.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte sie schließlich und ging im Geiste den Inhalt des Kühlschranks durch. Viel war nicht mehr über. Wahrscheinlich würden sie Pizza bestellen müssen.
Lou nickte und legte den Kopf schief.
»Hast du Besuch, Mum?«
»Albertine ist hier.«
»Albertine? Was will sie?« Lous Augen funkelten, und sie schob das Kinn nach vorne.
»Offensichtlich … ähm … will dein Vater die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und … das Haus ein wenig renovieren«, versuchte Reenie ihrer Tochter die Situation diplomatisch zu erklären. »Und Albertine leitet die Renovierung.«
»Mum.« Lou verdrehte die Augen. »Ich bin kein Kind mehr, weißt du? Dass Dad uns wegen diesem Flittchen abserviert hat, ist kein Geheimnis bei uns an der Schule.«
»Lou! Seit wann verwenden wir solche Ausdrücke in diesem Haus?«
»Wenn es doch wahr ist.«
»Dein Vater und ich haben uns auseinandergelebt, das kommt vor. Und unsere Trennung bedeutet nicht, dass er euch nicht mehr liebt.«
»Wer’s glaubt.« Lou legte die Stirn in Falten und drehte den Kopf zur Küchentür. Dahinter wurde Albertines nasale Stimme lauter, untermalt vom aufgeregten Geklapper ihrer Manolos.
Mit Schwung öffnete sie die Tür und stolzierte herein, die namenlose Designerin immer noch an ihren Fersen.
»Bei der Umgestaltung der Küche werden wir uns ganz auf Sie verlassen. Ich werde nicht viel Zeit hier verbringen, wofür gibt es schließlich Haushälterinnen …« Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, dass sie nicht alleine waren.
»Eloise! Das ist aber eine Überraschung.« Albertine lächelte Lou an.
»Nicht wirklich. Ich wohne hier noch, weißt du?«, versetzte Lou trocken.
»Und das soll auch immer dein Zuhause bleiben, Cherié«, flötete Albertine. »Ich habe meiner Interior-Designerin strengste Anweisungen gegeben, an euren Zimmern nichts zu ändern. Wenn ihr euren Vater besucht, werdet ihr euch wie zu Hause fühlen.«
»Da bin ich aber beruhigt,«, antwortete Lou. »Ich dachte schon, wir müssten mit deinen neureichen Geschmacklosigkeiten auch in unseren Zimmern leben.«
Reenie betrachtete mit Interesse, wie Albertines sorgsam zurechtgemachte Gesichtszüge entgleisten. Das Husten der Designerin klang verdächtig nach einem unterdrückten Lachen, und Lou hakte sich mit einem strahlenden Lächeln bei ihrer Mutter ein.
»Komm, Mum. Wir suchen Lenny.«
Reenie lächelte Albertine an, zuckte mit ihren Schultern und folgte ihrer wunderbaren, aufmüpfigen Tochter durch die Tür hinaus. Albertines mörderischer Gesichtsausdruck war der schönste Anblick seit Langem.

Wie es mit Reenie und den Kindern weitergeht, erfahrt ihr in „Küss mich im Sommerregen„.